Die Frau mit der Pagenfrisur schaut uns direkt an. Erschöpft wirkt sie, desillusioniert. Die Kämpfe der Männer, die sich hinter ihr auf verblichenen Plakaten abbilden, sind nicht ihre Kämpfe. Die Frau ist zurückgeworfen auf das Warten. Und doch signalisiert sie mit orangerotem Haar und sorgfältig gezogenem hellroten Lippenstift, dass es kein Zurück mehr in das verlassene Leben gibt.
„Sieh Dir die Menschen an!“ ist staunenswerte Ausstellung, kühle Bestandsaufnahme, zeigt sich als offene Feldforschung und ist nicht zuletzt begehbare Bibliothek mit übergroßen Verweisabbildungen. Es ist ein Labor, in dem über Bilder, Zeichnungen, Bücher, Fotografien, Filme, Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitte kühl vergleichend das Menschenbild analysiert wird – und darüber eine Gesellschaft, die ihre Vielfalt gerade erst begreifen lernt und doch erkennen lässt, damit überfordert sein zu können und bereit für einfache Lösungen. Dass zugleich die künstlerische und damit formale Vielstimmigkeit unter der Fahne der Neuen Sachlichkeit deutlich wird, bietet feine Anknüpfungspunkte für deren weitere Rezeption.
Anne Vieths Meisterstück
Anne Vieth verantwortet die Konzeption dieses Projektes – es ist ein nachträglich wirkendes Meisterstück, zeichnet doch die vormalige Kuratorin des Kunstmuseums Stuttgart inzwischen als Nachfolgerin von Renate Wiehager für die Betreuung und Weiterentwicklung der Mercedes-Benz-Kunstsammlung verantwortlich. Vieth-Nachfolger Dierk Höhne wiederum hat die Ausstellung „übernommen“ – und dürfte ungeachtet eigenen Zutuns wie auch das Publikum bei jedem Besuch in den Kubus-Räumen neu staunen.
Da bekommt etwa das gerne auch als „Mona Lisa des 20. Jahrhunderts“ gewertete Otto-Dix-Prunkstück „Bildnis der Tänzerin Anita Berber“ (Sammlung Landesbank Baden-Württemberg im Kunstmuseum Stuttgart) von 1925 eine kongeniale Antwort: Dix’ „Bildnis der Journalistin Sylvia von Harden“ zeigt die Kultfigur einer neuen Epoche in all ihrer intellektuellen Schärfe. Aus dem Musée national d’art Moderne im Pariser Centre Pompidou angereist, bildet dieses Bild zugleich die Spitze zahlreicher ungemein präzise gewählter Leihgaben. Unbedingt zu nennen und zu beachten ist hier etwa Kate Diehn-Bitts „Selbstbildnis als Malerin“ aus der Kunsthalle Rostock. 1935 entstanden, forciert die Rostocker Malerin hier gleichermaßen das Infragestellen einer unmittelbaren Geschlechtszuweisung und deutet zugleich die Malerei nicht als heroische, sondern als analytische Tätigkeit. Mit gutem Grund also weist dieses Porträt über das Stichjahr 1933 und die mit der politischen und kulturellen Gleichschaltung im nationalsozialistischen Deutschland verbundene Ablehnung aller Vielfalt hinaus.
Botinnen einer neuen Zeit
Man möchte in dieser Ausstellung immer wieder vor und zurück gehen, Verbindungen neu sehen und über die vielfach ausgelegten Publikationen der 1920er Jahre auch buchstäblich neu lesen. Befeuert werden diese Dialoge durch herausragende fotografische Positionen – kulminierend vielleicht im Gegenspiel von Cami Stones Porträt einer jungen Frau, die herausfordernd befreite Botin einer neuen gesellschaftlichen Identität ist, und August Sanders Epochenaufnahme „Sekretärin beim Westdeutschen Rundfunk in Köln“ von 1931. Diese Frau lässt keinen Zweifel an der Notwendigkeit, scheinbare Vorgaben geschlechtlicher Identität zu hinterfragen – und doch verrät der Blick Zweifel, ob sie sich ihrer demonstrativen Sicherheit eben dies sein kann – sicher.
Ankündigung für Gerhard Venzmers „Sieh Dir die Menschen an!“ aus dem Jahr 1931 FK/Franckh-Kosmos Verlags GmbH & Co. KG, Stuttgart
Ganz und gar ist diese grandiose Ausstellung (entstanden in Kooperation mit dem Museum Gunzenhauser in Chemnitz und in veränderter Fassung im Anschluss auch dort zu sehen) in Stuttgart verankert. So bilden die Bücher „Körperbau und Charakter“ des Tübinger Psychologen Ernst Kretschmer (1921 erstmals erschienen und bis 1977 in der 27. Auflage fortgeführt) und der als Ratgeber angelegte Band „Sieh Dir die Menschen an!“ des Stuttgarter Mediziners Gerhard Venzmer nicht nur die Grundlage für die Titelgebung – sie stehen für eine populärwissenschaftliche Vermessung des Menschen, die zumindest für Kretschmer und Venzmer direkt in die nationalsozialistische Rasse-Ideologie mündet.
Zeitsprung zu Cemile Sahins „Alpha Dog“
„Sieh Dir die Menschen an! Das neusachliche Typenporträt in der Weimarer Zeit“ springt zuletzt unmittelbar in die Gegenwart. Das dritte Obergeschoss ist gänzlich der 1990 in Wiesbaden geborenen kurdisch-alevitischen Konzeptkünstlerin und Autorin Cemile Sahin vorbehalten. „Alpha Dog“ heißt ihre Rauminstallation, und autarke Computer-Hunde bestimmen denn auch das Geschehen in einer überdimensionalen Falle des schönen Bilder-Scheins. Der Zeitsprung von 100 Jahren überzeugt – Sahins digitale Zeitgenossenschaft bestätigt rückwirkend die brodelnde Aktualität der für „Sieh Dir die Menschen an!“ versammelten Werke der 1920er Jahre. 100 Jahre vor Instagram & Co. entstehen erstmals gezielt Medienbilder – und provozieren Künstlerinnen und Künstler zu bekenntnishaften Positionierungen.
Gut zu wissen
Öffnungszeiten
Bis zum 14. April 2024 im Kunstmuseum Stuttgart (Schlossplatz); Dienstag bis Sonntag 10 bis 17 Uhr, Freitag 10 bis 20 Uhr.
Eintritt
11 € (ermäßigt 8 €), unter 18 Jahren frei. Der unbedingt empfehlenswerte Katalog (Verlag Hatje Cantz) kostet im Museum 40 Euro. Im Buchhandel 54 Euro.