Fast 40 Jahre lang lebte der ehemalige Nazi-Gauleiter Sigfried Uiberreither mit neuer Identität in der Autobauerstadt und arbeitete bei Bitzer. Jetzt endlich wollen die Stadt und das Unternehmen dieses düstere Kapitel aufarbeiten.

Sindelfingen - Der Grabstein hat den Charakter einer Stele: „Friedrich Schönharting, Katharina geb. Wegener“, ist darauf in kapitalen Lettern zu lesen. Seit 1984 befindet sich auf dem Sindelfinger Burghaldenfriedhof die letzte Ruhestätte von Schönharting, der eigentlich Sigfried Uiberreither hieß.

 

Fast 40 Jahre lang lebte Uiberreither unter falscher Identität in Sindelfingen, war jahrelang in gehobener Tätigkeit bei dem Kühlmaschinenhersteller Bitzer beschäftigt. 1947 war er in die Stadt gekommen. „Eine typische Nachkriegsgeschichte“, sagt Horst Zecha, der Chef des Sindelfinger Kulturamts. In den Wirren dieser Zeit mit vielen Heimatvertriebnen und Flüchtlingen fielen Neubürger nicht weiter auf. Was wohl nur wenige Menschen in Schönhartings Umgebung wussten: Er hatte zur Führungselite des NS-Regimes im Dritten Reich gehört. Fotos zeigen ihn in Uniform neben Adolf Hitler. Als Gauleiter der Steiermark war Uiberreither verantwortlich für die Deportation Tausender jüdischer Menschen und die Erschießung vieler Partisanen. Nach dem Krieg wurde er von den Alliierten als Kriegsverbrecher angeklagt. Ihm drohte die Auslieferung nach Jugoslawien und dort die Todesstrafe. Doch Uiberreither gelang die Flucht. In Sindelfingen baute er sich eine neue Existenz unter einem falschen Namen auf und lebte unbehelligt bis zu seinem Tod in der Stadt.

Wer in Sindelfingen wusste von Schönhartings Vergangenheit?

Wie gelang ihm die Flucht? Warum ist er ausgerechnet nach Sindelfingen gekommen? Wer hat ihn dabei unterstützt, und wer wusste von seiner Vergangenheit? Diese und viele andere Fragen sollen nun geklärt werden. Die Stadt will gemeinsam mit der Firma Bitzer die Geschichte aufarbeiten.

Doch warum kommt das alles erst jetzt ans Licht? Berichte über Schönhartings/Uiberreithers Rolle im Dritten Reich gibt es schon seit vielen Jahren. „Das war kein aktives Unterdrücken“, sagt Horst Zecha. Er hatte erstmals 2006 die Namen Schönharting und Uiberreither gehört. „Ich erhielt einen Brief mit der Anfrage nach Schönhartings Grab.“ Zecha recherchierte und stieß auf Hinweise zu Uiberreither. Eine Anfrage bei der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen sei jedoch im Sande verlaufen. „Die sagten mir, dass ein Toter für sie nicht interessant sei und sie keine Informationen hätten.“ Der Fall geriet in Vergessenheit. Einige Jahre später stieß Zecha bei einem Besuch in Graz wieder auf die Namen des ehemaligen Gauleiters. In der Steiermark hatte man mittlerweile dessen Rolle aufgearbeitet. Aber in Sindelfingen führten Zecha auch erneute Recherchen nicht weiter. „Es gibt in unserem Archiv und auch bei Bitzer keine Unterlagen über Schönharting.“

So richtig ins Rollen kam die Geschichte im vergangenen Jahr, als ein Redakteur der Kreiszeitung zufällig auf den Fall stieß. Ein ehemaliger Arbeitskollege Schönhartings erzählte ihm, dass man bei Bitzer durchaus von Schönhartings Vergangenheit gewusst habe. Doch der einstige Gauleiter sei ein Schützling des Chefs Martin Bitzer gewesen. Übrigens ein Mann, der gewiss kein Nazi war und im Dritten Reich in seinem Haus Juden versteckt hatte. Auch mit dem Sindelfinger Bürgermeister Arthur Gruber sei Schönharting befreundet gewesen. Seine Flucht soll Schönhartings Frau, eine Tochter des berühmten Polarforschers Alfred Wegener, mit Unterlagen ihres Vaters bei den Amerikanern erkauft haben. „Das sind momentan alles nur Spekulationen“, sagt Zecha. Er erhofft sich Aufklärung durch Recherchen, die er mit österreichischen Forschern plant. „Es gibt noch einige Zeitzeugen, die die Schönhartings gekannt haben“, sagt Zecha. So war Schönhartings Frau Geigenlehrerin an der Sindelfinger Musikschule. Alle vier Söhne, der jüngste wurde in Sindelfingen geboren, besuchten das Goldberg-Gymnasium. Bisher wollten sich die Söhne nicht zu ihrer Familiengeschichte äußern.

Eine Familie mit neuem Namen und ohne Verwandte

Doch beim Anruf unserer Zeitung zeigt sich der zweite Sohn Günther, Jahrgang 1942, aufgeschlossen. Ein seltsames Leben hätten sie geführt, sagt er. „Wir durften plötzlich unseren Nachnamen nicht mehr sagen.“ Seltsam sei auch gewesen, dass es keine Verwandten gegeben habe und keine Familiengeschichte. „Aber wir kannten es ja nicht anders.“ Dass sein Vater einen guten Draht zum Bitzer-Chef gehabt habe, bestätigt der Sohn. Auch der Bürgermeister Gruber sei bei ihnen zu Besuchen gewesen. Mehr weiß er aber nicht. Über die Vergangenheit des Vaters sei in der Familie nie gesprochen worden, auch wenn ihm selbst im Laufe der Schulzeit bewusst geworden sei, dass diese mit den Dritten Reich zusammenhing. Doch ernsthaft habe er sich erst als Student damit auseinandergesetzt. Mehr möchte der Sohn dazu nicht sagen. Doch es ist ihm anzuhören, dass ihn die Vergangenheit seines Vaters nicht loslässt.