Sören Döffinger aus Mulfingen Deutschlands jüngster Bürgermeister
Sören Döffinger ist der neue Chef im Mulfinger Rathaus. Der 25-Jährige besitzt keine Verwaltungserfahrung. Aber er weiß, wie man auf die Menschen zugeht.
Sören Döffinger ist der neue Chef im Mulfinger Rathaus. Der 25-Jährige besitzt keine Verwaltungserfahrung. Aber er weiß, wie man auf die Menschen zugeht.
Auf der Rundfahrt durch die Gemeinde, deren Geschicke er seit ein paar Wochen lenkt, stoppt Sören Döffinger seinen BMW am Wegesrand. „Sodele“, sagt er. „Das will ich Ihnen kurz zeigen.“ Ein kleiner Hofladen, gleich neben einem Kuhstall. Rechts trottet das Vieh zum Melkroboter. Links wird die Milch verkauft. Hier auf dem Land ist die Lieferkette kurz.
Sören Döffinger ist der neue Bürgermeister von Mulfingen. Hier, im nordöstlichen Zipfel des Hohenlohekreises, stimmten bei der Wahl im Januar 85,29 Prozent der Mulfinger für den CDU-Politiker. Seine offizielle Vereidigung im Amt war am 10. April.
Früher wäre Döffinger ein sehr untypischer Wahlsieger gewesen. Mit 25 Jahren ist er derzeit der jüngste amtierende Bürgermeister Deutschlands. Anders als 85 Prozent seiner Kolleginnen und Kollegen in Baden-Württemberg hat er noch dazu keinerlei Verwaltungserfahrung. Döffinger steht exemplarisch für einen neuen Typ Rathauschef. Denn der Beruf verändert sich gerade – und damit auch diejenigen, die ihn ausführen.
„Bürgermeisterinnen und Bürgermeister haben heute andere Aufgaben als früher. Deshalb brauchen sie auch andere Fähigkeiten“, sagt der Verwaltungswissenschaftler Paul Witt. Er forscht zum Beruf des Bürgermeisters, war lange Rektor der Hochschule für Verwaltung in Kehl. Früher, da seien Bürgermeister Macher gewesen, sagt er. Sie organisierten die Müllabfuhr, waren Bauherren. „Diese Infrastruktur ist mittlerweile gegeben. Heute sind Bürgermeister mehr in der Rolle der Moderatoren. Sie müssen vermitteln können, Konflikte lösen, transparent sein. Das Soziale tritt in den Vordergrund.“
In Zeiten, in denen jeder neue Meter Straße und jedes neue Windrad in einem Bürgerentscheid münden könnten, müssen sie permanent Zustimmung für ihre Politik schaffen. Die Menschen abholen, Gesicht zeigen. Umfragen belegen, dass es das ist, was man von ihnen erwartet.
„Ich hab immer gesagt, ich will kein Verwaltungsmeister werden, sondern Bürgermeister“, sagt Döffinger. Er sieht sich als Impulsgeber, als Kommunikator. Darauf fußte auch sein Wahlkampf, wo er gegen den Leiter des Ordnungsamts einer Nachbarstadt antrat. Einen mit etlichen Jahren Verwaltungserfahrung, parteilos. Döffinger versuchte gar nicht erst, mit Erfahrung zu punkten, die er nicht hatte. Stattdessen zog er von Tür zu Tür und suchte den persönlichen Zugang.
Ob er mit seiner Rolle als Kommunikator mehr Bundespräsident als Kanzler sei? „Ja, wenn man das so betiteln will“, sagt Döffinger. Er deutet auf ein Gebäude am Straßenrand. „Hier kommt übrigens das neue Café rein. Das wird im Mai eröffnet.“
Wer sich Mulfingen auf einer Karte anschaut, der sieht auf 80 Quadratkilometern acht kleine graue Sprenkel umgeben von sehr viel Grün. 3700 Einwohner verteilen sich auf acht Teilorte, die die Gemeindereform der 70er Jahre zu einer Einheit erklärt hat. Bislang gibt es in der Gemeinde einen einzigen Supermarkt und noch kein Café, dafür Schützenverein, Jugendclub und die Wallfahrtskapelle St. Anna. Wichtigster Arbeitgeber ist der Ventilatoren-Hersteller EBM-Papst, ein Konzern mit mehr als viermal so vielen Mitarbeitenden, wie Mulfingen Einwohner hat.
Lange war Mulfingen wegen EBM-Papst und dem Trikothersteller Jako eine Gemeinde ohne Geldsorgen, 2019 war die Gemeinde fast schuldenfrei. Dann kam die Coronapandemie. Weil EBM-Papst unter der Lieferkrise und Kostensteigerungen litt, brachen die Gewerbesteuereinnahmen massiv ein, gleichzeitig standen in der Gemeinde Investitionen in Kitas und Breitband an. Die Schulden wuchsen. Mittlerweile liegen sie bei mehr als 2000 Euro pro Kopf – und damit spürbar höher als die durchschnittliche Pro-Kopf-Verschuldung von 1408 Euro in baden-württembergischen Gemeinden. Döffinger sagt, sein wichtigstes politisches Ziel sei, das wieder zu ändern.
Bürgermeister in Baden-Württemberg gelten als die mächtigsten Rathauschefs Deutschlands. Sie sind gleichzeitig stimmberechtigtes Mitglied und Vorsitzender des Gemeinderats. Sie sind Chef der Verwaltung und ihr juristischer Vertreter. Ihre Amtszeit ist im Bundesvergleich mit acht Jahren außergewöhnlich lang. Sie können nicht abgewählt werden.
Gleichzeitig ist die Arbeit in einer Gemeinde wie Mulfingen sehr kleinteilig. Im Rathaus arbeiten 22 Menschen, die gesamte Gemeinde hat mehr als 140 Mitarbeiter. Am Morgen hatte sich der neue Bürgermeister mit den Assistentinnen aus dem Vorzimmer zusammengesetzt und das Budget für die Blumensträuße, die Mulfingerinnen zum 80. Geburtstag bekommen, von 15 auf 25 Euro erhöht. (Männer bekommen Sekt und Wein). Für Geburtstagsgeschenke ist Döffinger ebenso zuständig wie für die Leitung der Gemeinderatssitzungen oder die Einweihung eines Kindergartens.
In seinem neuen Büro türmen sich die Aktenberge seiner Vorgänger, Protokolle aus dem Gemeinderat, Wohnungsbaustrategie, das integrierte Gemeindeentwicklungskonzept 2030, Gebietsübersichtskarten, 34 sorgsam aufgereihte Schlüssel, die ihm Zugang zu allen öffentlichen Mulfinger Gebäuden ermöglichen. In den kommenden Wochen wird Döffinger viele der Hallen und Häuser besuchen – dann, wenn er seine Antrittsbesuche in den acht Ortsteilen abhält, um sich Wünsche und Sorgen anzuhören.
Für die Einwohner von Mulfinger ist Döffinger schon jetzt eine Berühmtheit, dabei ist er erst wenige Wochen im Amt. Wenn er mit seinem Wagen durch die Gemeinde fährt – von der Lourdesgrotte zum Sportheim, von Jagstberg nach Simprechtshausen – winken sie ihm zu vom Straßenrand. Beim Wirt im Sportheim reserviert er einen Tisch für eine Feier. Mit der Erzieherin im Kindergarten spricht er über Brandschutz, mit der Putzkraft über Bürokratie. Der Schreiner, der ihn am Tor zum Kindergarten abfängt, schlägt vor, der Bürgermeister solle mehr Photovoltaik auf die Dächer setzen.
Döffinger passt gut in das Bild eines jungen Konservativen: mit dem blauen Sakko und der farblich passenden Cordhose, mit den gegelten Haaren und dem BMW. Doch Döffinger redet nicht wie ein 25-Jähriger. Er redet, als habe er schon ein langes Leben in Mulfingen verbracht. Und er spricht gern mit den Menschen. Darin hat er Übung.
Schon in der Schule galt Döffinger unter Mitschülern als Politiker. Sie wählten ihn zum Klassensprecher, obwohl er sich gar nicht zur Wahl gestellt hatte. Sein Vater Joachim Döffinger ist seit 2010 CDU-Bürgermeister in Assamstadt, einem Dorf noch kleiner als Mulfingen. Der kleine Sören begleitete seinen Papa schon als Kind auf politische Veranstaltungen. Mit 15 Jahren trat er in die Junge Union ein, ein Jahr später in die CDU. Danach übernahm er eine ganze Reihe von Ämtern, im Landesvorstand der Schülerunion, im Kreisvorstand Main-Tauber, seit 2023 ist er stellvertretender Landesvorsitzender der Jungen Union.
Nach der Schule machte er bei der Bundeswehr die Ausbildung zum Luftwaffenoffizier. Im Anschluss studierte er Politikwissenschaft und Philosophie in München und arbeitete als Werkstudent bei McDonald’s in der Öffentlichkeitsarbeit. „Spannend“ sei das gewesen, sagt Döffinger, aber er habe gemerkt, dass er lieber Politik machen wolle.
Also schaute er im „Staatsanzeiger“, dem offiziellen Organ der Landesregierung, wo in Baden-Württemberg Bürgermeisterwahlen anstanden. Döffinger stieß auf Mulfingen, wo der parteilose Bürgermeister sich nicht wieder zur Wiederwahl stellen wollte. Mulfingen, gleich neben Oberstetten, wo er als Kind lebte. „Das passte wie das Deckele auf den Topf“, sagt er.
Der Posten des Bürgermeisters kann für Nachwuchspolitiker ein Steigbügel in höhere Sphären sein. Rund ein Viertel der aktuellen CDU-Landtagsabgeordneten waren zuvor (zumeist stellvertretende) Bürgermeister, bei der SPD waren es immerhin rund 21 Prozent. Als Döffinger sich zur Wahl stellte, munkelten einige im Ort, ob er Mulfingen denn nicht nur als Sprungbrett nutze. Döffinger versprach, seine Amtszeit von acht Jahren durchzuziehen, mindestens. Das sei für ihn eine Frage der Fairness. Und in zehn, 15 Jahren? „Klar kann ich mir vorstellen, irgendwann auch mal was Landespolitisches zu machen“, sagt Döffinger. „Aber ich wurde jetzt von den Mulfingern gewählt. Jetzt gilt es, mich hier zu beweisen.“
Der Bürgermeisterberuf ist in den vergangenen Jahren härter geworden. Dem Verwaltungswissenschaftler Paul Witt zufolge sind die Bürger heute wesentlich kritischer. „Früher wurden politische Entscheidungen durchgewunken, heute wird gegen alles Widerspruch eingelegt“, sagt er. „Außerdem werden die Bürgermeister immer häufiger Ziel von Hass und Hetze im Netz.“ In einer Forsa-Umfrage gaben 2021 mehr als 50 Prozent der befragten Bürgermeister an, schon einmal Hass erlebt zu haben. In Baden-Württemberg war der Prozentsatz mit 67 Prozent noch einmal deutlich höher.
Und so finden sich auch immer weniger Menschen, die überhaupt für einen Posten kandidieren wollen. „Die Absolventinnen und Absolventen der Verwaltungshochschule können in einem Verwaltungsjob schnell eine ähnliche Gehaltsstufe erreichen wie Bürgermeister“, sagt Witt. Anders gesagt: Wer sich für eine Verwaltungskarriere entscheidet, bekommt gutes Geld, ohne dafür seine Privatheit aufzugeben und sich zur Zielscheibe zu machen.
Auch Döffinger beobachtet, wie der politische Ton in der Umgebung andernorts rauer wird; wie die Landwirte in der Region Anti-Ampel-Plakate aufstellten; wie der eine oder andere enttäuschte Bürger „eine Treppenstufe zu weit“ gehe und am Ende die AfD wähle. „Wenn es den Leuten gut geht – und da geht es gar nicht ums objektive, sondern ums subjektive Empfinden –, dann hat die Politik in Deutschland eigentlich einen Freifahrtschein“, sagt Döffinger. Doch die Menschen empfänden ihre Situation heute als unsicherer. Er sieht die Gesellschaft an einem Kipppunkt: „Die Globalisierung dringt jetzt wirklich bis ins letzte Eck vor – und viele finden das einfach nicht gut.“
In Mulfingen ist das politische Klima noch in Ordnung. Die drängendste Herausforderung ist eine, die Menschen selten auf die Barrikaden treibt. 2030 wird jeder dritte Mulfinger 60 Jahre und älter sein. „Wir müssen wachsen, weil wir sonst gar nicht aufholen können, was uns demografisch wegbricht“, sagt Döffinger. Was bringe es, eine neue Kita zu bauen, wenn sich niemand finde, der dort arbeiten könne?
Der neue Bürgermeister hat jetzt acht Jahre Zeit, um die Welt im Ort weiter in Ordnung zu halten. Die klaffenden Mobilfunklöcher zu stopfen und aufzupassen, dass sich die Menschen in den acht weit verstreuten Teilorten nirgends abgehängt fühlen. Um gegen das Altern seiner Gemeinde zu arbeiten und gegen den politischen Hass, der sich andernorts ausbreitet.
Mit dem Titel „Jüngster Bürgermeister Deutschlands“ kann sich Döffinger allerdings nur noch wenige Tage schmücken. Im März hatte Moritz Baumann die Bürgermeisterwahl in Kürnbach (Kreis Karlsruhe) mit 66 Prozent gewonnen. Er ist 24 Jahre. Seine Amtszeit beginnt am 1. Mai.