Der Autor Heinrich Steinfest erzählt im StZ-Sommerinterview, wie sich beim Laufen Knoten lösen, die ihn beim Schreiben von Romanen blockieren.

Stuttgart – - Die morgendliche Joggingtour mit Heinrich Steinfest führt vom Stuttgarter Westen durch Wohngebiete und Wälder einem Gipfelkreuz entgegen. Es ist heiß und steil. So steil, dass sich der Autor beim Mitläufer fürsorglich erkundigt, ob man nicht zwischendurch ein paar Schritte gehen wolle. Das verbietet natürlich der Stolz.
Herr Steinfest, geschafft! Wir sind gemeinsam vom Vogelsang zum Birkenkopf hinaufgejoggt. Für ein Stuttgart-Buch, das im Herbst erscheint, sind Sie im Winter nachts um fünf hier mit einer Stirnlampe hinaufgelaufen. Warum musste es ausgerechnet der Birkenkopf sein?
Ich habe für eine 24-Stunden-Reportage über Stuttgart recherchiert. Zwischen vier und fünf Uhr war ich in der Stadt und habe das Nachtleben studiert. Nach diesen Eindrücken wollte ich einen letzten ruhigen Punkt setzen. So kam ich auf den Birkenkopf. Ich lief für das Buch im Februar hier hinauf – dabei habe ich erlebt, wie sich das Wetter verändert. In der Stadt war es vollkommen trocken, als ich oben ankam, lag dort Schnee. Auf dem Birkenkopf ist ja mitunter auch Partytime, aber als Läufer ziehen mich die frühen Stunden an.
In Stuttgart heißt der Birkenkopf im Volksmund Monte Scherbelino, hier liegen Trümmer aus dem Zweiten Weltkrieg – vom Gipfel aus blickt man auf eine Stadt, die sich durch den Wiederaufbau verwandelt hat.
Als ich das erste Mal hier oben auf dem Schüttberg stand, war das ein ungewöhnlicher Anblick. Ich bin in Wien aufgewachsen – ein solcher Ort war mir neu. Mir geht es dabei nicht um einzelne Steine, es ist das Ensemble, das mich beeindruckt, die Art, wie sich die Natur im Laufe der Jahre alles ein Stück weit wieder zurückgeholt hat. Der Birkenkopf hat etwas Andächtiges: überwucherte Steine, die Bäume und das Kreuz – ein Maler der Romantik hätte sich so einen Ort ausgesucht.
Mal abgesehen von diesem Ort und von der Natur – was bedeutet Ihnen das Laufen?
Ich sitze viel am Computer und lebe in der Theorie. Beim Laufen kann ich mich und meinen Körper spüren. Diese Bewegung und Beweglichkeit sind mir ein großes Bedürfnis. Ich habe mein Leben lang Sport getrieben, als junger Mensch durchaus obsessiv und mit einem Schwung von Hysterie.
Hat Sie dabei nur das Laufen fasziniert oder auch andere Sportarten?
Als ich zehn oder elf Jahre alt war, bin ich Mittel- und Langstrecke gelaufen. Ich war ein dünnes Hendl. Die Sportart, die ich obsessiv betrieben habe, war aber Judo. Ich war österreichischer Schülerstaatsmeister, vierzehnjährig bis 40 Kilogramm, jetzt wissen Sie, warum ich „dünnes Hendl“ sag.
Ein schöner Titel.
Ich weiß: wie Hofrat oder Herr Professor.
Sie attestieren sich selbst eine gewisse Besessenheit. Woher kam die?
Mein Vater war zu Hause nicht präsent, im Sport habe ich Ersatzväter gefunden. Wenn du als Jugendlicher in einen Verein gehst und Sport treibst, hast du auch eine Familie. Mir ist erst später bewusst geworden, dass die Liebe, die mir begegnet ist, stark mit meinem Erfolg zusammenhing. Das war mir aber egal. Die Trainer waren Ersatzväter für mich, und ich war bereit, alles für den Erfolg zu tun, um Liebe und Zuneigung zu erfahren. Wenn ich in einem Land aufgewachsen wäre, in dem man Medikamente verabreicht hätte – ich hätte sie auf jeden Fall genommen.
Der unbedingte Leistungsgedanke treibt Sie heute vermutlich nicht mehr an beim Laufen.
Nein, das Laufen besitzt für mich inzwischen eine meditative Qualität. Das hat auch etwas mit der Regelmäßigkeit zu tun, für die meisten Läufer ist das Joggen ein Teil des Alltags. Ich gehe laufen, wie ich Zähne putze, arbeite oder esse.
Dennoch spielt das Sich-miteinander-Messen auch bei vielen Breitensportlern eine Rolle. Wie halten Sie es mit Volksläufen?
Ich bin einmal den Wien-Marathon gelaufen und auch den Halbmarathon in Stuttgart. Es ist viel leichter, eine Strecke in einem Pulk von Menschen zu laufen, weil man von der Menge mitgetragen wird. Andererseits widersprechen solche Veranstaltungen fundamental dem Reiz des Laufens, der für mich darin besteht, allein zu sein und mir beim Atmen zuzuhören.
Heute kann man beim Laufen seinen Kontrollfetischismus ausleben: Hightechgeräte messen den Puls und zeigen die verbrannten Kalorien an. Man kann sich mit anderen Läufern im Internet vergleichen.
Das ist für mich eine logische Geschichte, weil es darum geht, Produkte zu verkaufen. Für die Entwicklung von Laufschuhen wird immens viel Geld ausgegeben und auch in die Werbung gesteckt. So fühlen wir uns verpflichtet, immer noch besser gedämpfte Schuhe, neue Funktionsshirts und Pulsuhren zu kaufen. Läufer sehen heutzutage aus, als verfolgten sie eine Mission impossible.
Die Sache mit den Pulsuhren und Geschwindigkeitsmessern erinnert mich an einen Controller, der sich ein Unternehmen anschaut: Mal sehen, ob der Körper auch effizient funktioniert und wirklich das maximal Mögliche leistet.
Wir wollen Maschinen sein. Während wir die Maschinen menschlich machen, bekommen wir selbst eine maschinelle Qualität. Ich komme beim Laufen gut ohne Messinstrumente aus. Mein Körper signalisiert mir, ob mir etwas guttut oder nicht. Ich gehe nicht laufen, um schön und schlank zu sein – das Laufen ist für mich keine ästhetische Frage, mir geht es um das Wohlbefinden.
Sie sind ein Vielschreiber und haben bereits 15 Bücher veröffentlicht. Welche Rolle spielt das Laufen als mentale Durchlüftung beim Schreiben?
Ich verfasse halbe Bücher beim Laufen. Beim Schreiben gibt es natürlich Phasen, in denen ich nicht weiterkomme und es einen Knoten in einer Geschichte gibt. Das ist genau der Moment, in dem ich losrenne. Der Rhythmus löst bei mir körperliche und geistige Verkrampfungen. Mir kam fast jedes Mal im Zuge der körperlichen Anstrengung die entscheidende Idee. Ich bin auf die Idee zugestrebt, und sie auf mich.
Haben Sie für solche kreativen Akutfälle einen Notizzettel dabei?
Nein. Wenn ein Einfall so gut und entscheidend ist und meine Geschichte wieder in die richtige Bahn lenkt, dann setzt sich das fest. Ich habe mal darüber nachgedacht, ein Aufnahmegerät beim Laufen mitzunehmen. Aber das würde meinen Rhythmus stören, und ich müsste das Gefühl haben, einen Sekretär mitzunehmen, der da an meiner Seite mitläuft und mitkeucht.
Ein schöner Gedanke. Der Sekretär könnte sich anschließend bei Ihnen an den Schreibtisch setzen und Ihr Buch weiterschreiben.
Als Schriftsteller kann ich mir weder einen Sekretär noch einen Chauffeur leisten. Wobei: ich besitze ja keinen Führerschein, also wäre ein Chauffeur eigentlich das Richtige für mich.
Fahren Sie in Stuttgart öfter Taxi, wenn Sie selbst kein Auto besitzen?
Was das Taxi betrifft, bin ich ein Schwabe. Ich wundere mich immer, wenn ich bei der Buchmesse sehe, dass sich manche Autoren permanent mit dem Taxi befördern lassen. Mir kommt es pervers vor, mich da reinzusetzen, wenn ich stattdessen auch eine Stadtbahn nehmen könnte. Das ist für mich abstrus. Abgesehen davon würde ich niemals auf die Erlebnisse in öffentlichen Verkehrsmitteln verzichten wollen. Das Personenstudium ist hochinteressant, du erlebst die Magie und den Wahnsinn des Alltags, wenn du mit der Stadtbahn fährst.
Wie viel davon fließt in Ihre Bücher ein?
Alles. Das passiert natürlich nicht eins zu eins. Ich suche mir Aspekte einer Person heraus und konzentriere mich dabei auf Details – auf die Eigenarten eines Menschen: wie sich jemand bewegt, seine Mimik und seine Gestik oder seine Artikulation. Ich höre zu, wenn sich Menschen miteinander streiten, ich finde es interessant, in welcher Weise sich jemand kratzt. In der Stadtbahn setze ich mich immer nach hinten, damit ich den ganzen Waggon überblicken kann.
Dann warnen wir die Stuttgarter: Vorsicht vor einem drahtigen Mann Anfang 50, der oft einen Hut trägt – er verwandelt Sie in der Stadtbahn womöglich in eine Romanfigur.
Manchmal werde ich selbst beobachtet. Ich bin Täter und Opfer der Betrachtung.
Und Sie sind ein schöner Reingeschmeckter: Sie wohnen in Stuttgart und verweigern sich dem Automobil.
In Stuttgart ist es schwer, sich kritisch über das Automobil zu äußern. Das schaut dann immer gleich so aus, als wolle man den Daimler geradewegs aus der Stadt verjagen. Wer das Auto als Objekt problematisiert, begeht Hochverrat. Aber es muss doch möglich sein, auch kritisch über dieses unser „Haustier“ zu reden.
Das sagen Sie, weil Sie keinen Führerschein besitzen.
Die Autos dürften ruhig ein bisschen weniger in Betrieb sein. Es gibt Vorstellungen, dass Autos dafür geschaffen sind, Menschen zwischen zwei Städten hin- und herzukutschieren, aber nicht in der Stadt selbst. In meinen Büchern gibt es übrigens durchaus eine große Liebe zu Automobilen – zu Autos als Kunstwerken. Das ist vermessen, ich weiß.
Nach dem Krieg plante Stuttgart die autogerechte Stadt – heute landen wir oft beim automobilen Stillstand im Stau.
Wenn man einmal so mutig war, eine autogerechte Stadt zu planen, dann könnte man heute so mutig sein, eine menschengerechte Stadt zu planen. Wenn man den Mut hatte, eine bestimmte Straße zu bauen, kann man auch den Mut haben, eine bestimmte Straße wieder zurückzunehmen und diesen Ort anders zu nutzen. Ich könnte mir vorstellen, dass wir einmal in einer friedlichen Koexistenz mit den Maschinen – und damit auch mit den Autos – leben werden.
Darüber könnten wir auf dem Rückweg reden. Glücklicherweise geht es bergab, Sie sind furchtbar austrainiert.
Eines muss ich Ihnen zum Birkenkopf noch erzählen. Im Jahr 2001 ist die Raumstation Mir kontrolliert abgestürzt und verglüht. Als ich damals abends hier hochgejoggt bin, habe ich sie gesehen. Aber vielleicht war das auch ein Hirngespinst, und ich habe mir das alles nur eingebildet. Die Grazie des Birkenkopfs war jedoch ganz real.