In der Gerlinger Waldsiedlung wohnen die Wohlhabenden. Dafür wurden einst rund sieben Hektar Bäume abgeholzt – die Stadt wollte gute Steuerzahler als Bürger. Heute gibt es keine Läden mehr – Schule und Kitas sind aber begehrt.

Gerlingen - Der große gelbe Postkasten steht im Schatten und ist kaum zu sehen. Hingegen irritieren die gelb angestrichenen Balkonbrüstungen des Betonhauses fünfzig Meter weiter das Auge des Besuchers, der in der Gerlinger Waldsiedlung Beschaulichkeit sucht. Die findet er schon eher in weinroten Fensterläden, drei Meter hohen grünen Hecken oder in dunklen Holzverkleidungen, die noch an weißen Häusern zu finden sind. Die Waldsiedlung wurde vor gut 50 Jahren in einheitlichem Stil gebaut, und das sieht man heute noch – trotz Generationenwandels. Die Bewohner der Waldsiedlung, die nicht zu den Armen gehören, werden drunten in der Gerlinger Tallage gerne als „die da oben“ bezeichnet. Was immer das heißen mag. Meist ist Neid dabei. Ein bisschen.

 

Denn dort oben ist zwar ruhig wohnen – aber sonst ist nicht viel. Sieht man von zwei Kitas, einer Kirche und einer Schule ab. Ganz so sparsam war das Angebot nicht immer. Walter Blumhardt war einer der ersten in der Waldsiedlung, und der einzige Kreis- und Gemeinderat von hier oben. Der heute fast 90-jährige Pädagoge unterrichtete an der Pestalozzischule, seine Frau Edith war die erste Lehrerin der Waldschule. Doch bis diese 1963 eröffnet wurde, musste noch viel geschehen. Im Oktober 1959 präsentierte der städtebauliche Berater der Stadt, Oberbaurat Hans Gerber aus Stuttgart, dem Gemeinderat einen ersten Plan für eine Wohnsiedlung.

Max Bächer sorgt für planerische Ordnung

Für die weiteren Planungen wurde der Architekt Max Bächer, der als Hochschullehrer berühmt wurde, als „Oberleiter“ gewonnen. Er sorgte dafür, dass die Siedlung eine einheitliche Struktur bekam und sich jeder Bauherr an die Vorschriften hielt. Sein Büro vor Ort war in einem Bauwagen – da, wo sich heute der Briefkasten im Schatten versteckt. Es wurden 65 Bungalows, 26 Reihenhäuser, zwei Läden, die Schule, der Kindergarten und die Matthäuskirche gebaut. 400 Familien bewarben sich für die üppig bemessenen städtischen Grundstücke; mit dem Erlös wurden Schule und Kindergarten bezahlt.

Gebaut wurde 1962 und 1963, dann kamen die Menschen. „Das waren alles Familien für sich“, erinnert sich Blumhardt, „keiner hat den anderen gekannt.“ Das habe sich im Lauf der Zeit nur teilweise geändert. „Man hat nicht mal gewusst, wie der übernächste heißt.“ Familie Blumhardt war auf der Höhe nicht ganz neu, wohnte zuvor an der Bopserwaldstraße. Hat er sich wohlgefühlt? „Ja, natürlich!“ sagt der 89-Jährige. An die Grundstücksverteilung erinnert er sich gut – darüber habe er für die Zeitung berichtet.

Die Bank gibt es nicht mehr, im ehemaligen Laden mit Bäckerei ist heute die Kleinkinderkita „Windelflitzer“, aus dem Laden neben der Tankstelle ein wenig weiter wurde ein Büro. Der Grund für die Umwandlung: „Die Leut’ sind zum Einkaufen weggefahren.“ Und von der vergessenen Butter und ein paar Brezeln habe Bäcker Kleinbach auf Dauer eben nicht leben können.

Der Bäcker mit dem kleinen Laden

An die Bäckerei mit Laden erinnert sich auch Hansjörg Hauser gerne. Er wohnt zwar über der Schnellstraße drüben, ist aber in der Matthäusgemeinde seit 30 Jahren engagiert und kennt sich in der Waldsiedlung gut aus. Das soziale Leben sei von der Gemeinde geprägt gewesen, meint er – und berichtet von der Jungschar, die er als 40-Jähriger mit zwei anderen Vätern gegründet habe. Auffallend viele Schüler seien nicht aufs Gerlinger Gymnasium gegangen – sondern nach Stuttgart ins renommierte Karlsgymnasium oder in die Waldorfschule. Hauser nennt Namen von „denen da oben“: am bekanntesten sind Leibinger oder Späth. Die eigentliche Waldsiedlung besteht nur aus der Fritz-von- Grävenitz-Straße und dem Nanetteweg. Dort fällt eines auf: an Klingeln oder Briefkästen stehen oft Abkürzungen – oder nichts. Understatement? Zur Sicherheit?

Allzu deutlich möchte auch Hans-Georg Popp nicht werden. Der Gerlinger Architekt saniert viele der in die Jahre gekommenen Häuser der Waldsiedlung – auch mit Schwimmbädern. Bunker kommen auch vor, gebaut mit dem Kalten-Krieg-Zuschuss der sechziger Jahre. Schon mit elf Jahren sei er in der Siedlung herumspaziert, erzählt Popp (63) – und habe daheim die Häuser mit Legosteinen nachgebaut. „Da wusste ich, dass ich Architekt werden wollte.“ Max Bächer („sehr umgänglich, klar in seinen Äußerungen, überhaupt nicht elitär“) habe „trotz Einheitlichkeit eine Vielfalt an individuellen Häusern ermöglicht“, meint Popp. Er kannte den Professor gut und bezog ihn ein, als er mit seinem Büro für die Stadt die Schule und die Kita sanierte. Die Wohnhäuser seien elitär, räumt Popp ein, aber Gerlingen müsse auch ein anspruchsvolles Viertel haben. Etwa 15 Familien von Erstbeziehern seien noch da. Dann fährt er mit seiner schwarzen Ente weg. Weiße Daimler fallen hier weniger auf.