Nach der Abgeordnetenhauswahl in Berlin will CDU-Wahlsieger Kai Wegner schnellstmöglich Sondierungsgespräche führen. Doch die bisherige SPD-Regierungschefin Franziska Giffey fordert weiter eine „führende Rolle“ in der Landesregierung.

Die SPD hat bei der Abgeordnetenhauswahl ein Debakel erlitten. Die CDU ist klar stärkste Partei. Doch wer am Ende in der Hauptstadt regiert, ist alles andere als sicher. Es stehen komplizierte Gespräche bevor – mit offenem Ausgang.

 

Bei wem liegt jetzt der Auftrag zur Regierungsbildung?

In vielen Ländern gibt es die Tradition, dass das Staatsoberhaupt nach der Wahl einen Politiker mit dem Auftrag zur Regierungsbildung betraut. In Deutschland gibt es eine solche Regel nicht. Oft reklamiert derjenige mit dem besten Wahlergebnis diesen Auftrag für sich – wie jetzt Kai Wegner in Berlin. Es bilden sich aber auch immer wieder Regierungen, die von einer Partei angeführt werden, die nicht als stärkste aus der Wahl herausgegangen ist. Im parlamentarischen System, in dem oft Koalitionen geschlossen werden müssen, ist das legitim – und auch gang und gäbe.

Die Union liegt klar vorne. Warum kann sie sich nicht sicher sein, dass sie am Ende auch regiert?

Die CDU hat mit ihrem Spitzenkandidaten Kai Wegner klar die Wahl gewonnen. 28,2 Prozent der Stimmen holten die Christdemokraten in der Hauptstadt und liegen damit rund zehn Prozentpunkte vor Grünen und SPD, die beide auf 18,4 Prozent kamen. Doch am Ende regiert, wer eine Mehrheit bilden kann. Wegners Problem: Natürliche Koalitionspartner hat er im neuen Berliner Abgeordnetenhaus nicht. Die FDP büßte Stimmen ein und rutschte unter die Fünfprozenthürde, eine Koalition mit der AfD hat die CDU ausgeschlossen. So muss er eine der bisherigen Regierungsparteien aus ihrer Koalition lösen. Nach Lage der Dinge kommen Grüne oder SPD infrage. Wenn SPD, Grüne und Linke gemeinsame Sache machen, bleibt Wegner Oppositionsführer.

Wie groß sind die inhaltlichen Unterschiede zwischen Union und Grünen?

Grüne und CDU trennt in Berlin mehr als in Baden-Württemberg, Hessen oder Schleswig-Holstein. Die Lösungsvorschläge für die Probleme der Stadt sind sehr unterschiedlich. So will die CDU die Krise am Wohnungsmarkt in der Hauptstadt vor allem durch Neubau lösen, die Grünen wollen mehr Wohnungen in staatlicher Hand sehen. Welten trennen beide Parteien auch in der Verkehrspolitik. Grünen-Spitzenkandidatin Bettina Jarasch schlug im Wahlkampf vor, die Hälfte der Parkplätze zu entfernen. „Was die Grünen und Frau Jarasch im Wahlkampf fordern, gerade auch in der Verkehrspolitik, ist mit mir nicht zu machen. Punkt“, sagte Wegner. Von vielen wurde das bereits als eine Absage der CDU an ein schwarz-grünes Bündnis gesehen. Umgekehrt waren die Grünen mit einer klaren Koalitionsaussage in den Wahlkampf gegangen. Man wolle das Bündnis mit SPD und Linken unter grüner Führung fortsetzen, sagte Jarasch. Und wiederholte das auch am Montag.

Und zwischen Union und SPD?

Inhaltlich gibt es bei Wohnen und Verkehr größere Schnittmengen zwischen CDU und SPD. Auch in der Sicherheitspolitik ist die bisherige Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) für eine handfeste Gangart und liegt Wegner näher als ihren bisherigen Koalitionspartnern. Nur ist die Aussicht auf die Rolle als Juniorpartnerin für die SPD wenig verlockend – insbesondere, wenn man die Alternative hat, erneut die Bürgermeisterin zu stellen.

Die SPD liegt nur 105 Stimmen vor den Grünen. Ist klar, dass die SPD in einem rot-grün-roten Bündnis die Regierungschefin stellen würde?

Wenn eine mögliche Nachzählung nichts anderes ergeben sollte, ist davon auszugehen. Es entspricht den demokratischen Gepflogenheiten, dass der stärkste in einem Bündnis die Regierungschefin oder den Regierungschef stellt – auch wenn der Abstand knapp ist. Theoretisch denkbar ist auch das sogenannte israelische Modell, also eine Regierungskoalition, in der ein Wechsel des Regierungschefs im Verlauf der Legislaturperiode vereinbart ist. Der Begriff bezieht sich auf die Anwendung dieses Modells bei der israelischen Regierung von 1984 bis 1988. Die Grünen erheben aber gar nicht einen solchen Anspruch. Deren Spitzenkandidatin Bettina Jarasch sagte, sie erwarte angesichts des Wahlergebnisses einen „wirklich partnerschaftlichen“ Umgang.

Könnte die SPD Giffey fallen lassen?

Franziska Giffey ist in der Berliner SPD alles andere als beliebt. Giffey gehört in der SPD zum rechten Flügel, der Landesverband ist sehr links. Angesichts des historisch schlechten Wahlergebnisses ist bereits Kritik an der Regierenden Bürgermeisterin laut geworden. Ihr stellvertretender Landesvorsitzender forderte einen Neuanfang. Eine SPD ohne klare Führungsfigur wäre kaum in der Lage zu koalieren. Das könnte den Weg freimachen für Schwarz-Grün. Andererseits gibt es in der SPD niemanden, der als der ideale Nachfolger gelten würde. Allein das spricht für Giffey – vorerst. Ihr Weg zum Überleben wäre, erfolgreich eine rot-grün-rote Regierung zu bilden.

Hat die Berliner Wahl bundespolitische Auswirkungen?

Diese Wahl war eine stark landespolitisch geprägte. Dennoch verstetigt sie einen Trend, der die Arbeit in der Ampelkoalition nicht einfacher macht. Es ist die fünfte Landtagswahl nach der Bundestagswahl gewesen – und zugleich die fünfte, bei der die FDP eine schwere Niederlage einstecken musste. Bei diesen Wahlen gab es zwar gewichtige Gründe, warum es für die FDP schwierig war. Aber in der Partei verfestigt sich das Gefühl, dass die Ampelkoalition im Bund der FDP nicht guttut. Das setzt Minister, Parteispitze und Fraktion unter Druck, sich in der Regierung gegen Grüne und SPD zu profilieren. Das Regieren im Bund wird also nicht leichter.

Wie geht es jetzt weiter?

Kai Wegner verkündete am Montag, dass er Grüne und SPD zu Sondierungsgesprächen einladen wolle. Franziska Giffey sagte, man werde dieses Angebot annehmen. Es wird aber auch Gespräche zwischen den Sozialdemokraten und den Grünen sowie der Linken geben.