Nie war Kapitalismuskritik wertvoller als heute: Eigentlich müsste die europäische Linke als politischer Sieger aus der globalen Finanzkrise hervorgehen. Ihre Hoffnung auf eine bessere und gerechtere Gesellschaft hat sich noch lange nicht erledigt.

Stuttgart - Sozialistische Ideen haben schon mal höher im Kurs gestanden als heute. „Ich habe die Zukunft gesehen – und sie funktioniert“, schrieb der amerikanische Journalist Lincoln Steffens, nachdem er 1919 bis 1921 die damals noch junge UdSSR besucht hatte. Heute rufen solche Sympathiebekundungen für den Sowjetsozialismus allenfalls noch ein Schmunzeln hervor, hat doch die Geschichte gezeigt, wie unberechtigt die Hoffnungen waren, die westliche Intellektuelle auf dieses Gesellschaftsmodell gesetzt hatten.

 

Gleichwohl müsste die Linke in der Gegenwart besser dastehen, als sie es tatsächlich tut. Die 2007 ausgebrochene Wirtschaftskrise hat gezeigt, wie naiv der Glauben an den Erfolg deregulierten Wettbewerbs ist, war doch die Entfesselung der Finanzmärkte gerade Auslöser der Krise. Es trat ein, was Kritiker des ungezügelten Kapitalismus prophezeit hatten. Und als die US-Bank Lehman Brothers zusammenbrach, waren es ausgerechnet die wegen ihrer vermeintlichen ökonomischen Ineffizienz gescholtenen Nationalstaaten, die das System mit gigantischen Finanzspritzen retteten. Plötzlich also galten Eingriffe ins Wirtschaftssystem, traditionell eine Kernforderung der Linken, als alternativlos. Die Zeitschrift „Newsweek“ brachte den Umschwung auf den Punkt, als sie titelte: „Wir alle sind jetzt Sozialisten.“

Dennoch hatten diese Entwicklungen weder zur Folge, dass linke Parteien in Europa heute die Deutungshoheit innehätten, noch führten sie zu einem langfristigen Comeback der öffentlichen Hand, also zu einer Neuausrichtung der wirtschaftspolitischen Grundsätze. In Umfragen kommt die deutsche Linkspartei auf acht Prozent, ähnlich wie 2005. Und politisch lautet das Gebot der Stunde „Haushaltsdisziplin“: Die herrschende Politik sieht allein im strikten Sparen, also dem weiteren Rückzug des Staates aus dem Wirtschaftsgeschehen, einen Ausweg aus der Krise. Besonders hart bekommen das die Griechen zu spüren. Im Gegenzug für Finanzhilfen wird von ihnen eine weitere Deregulierung des Arbeitsmarkts verlangt, was die Arbeiter der vollen Wucht des globalen Wettbewerbs aussetzt. Derartige Maßnahmen entsprechen den Reformen, die jahrelang den Entwicklungsländern aufgezwungen wurden – mit verheerenden Folgen.

Auch Konservative kritisieren den Kapitalismus

Im siebten Jahr der Krise scheint also alles wieder seinen gewohnten Gang zu gehen. Dagegen regt sich zwar Protest, doch den Protestbewegungen ist es nicht gelungen, ein konkretes alternatives Projekt zu entwickeln. Weil die Vision einer sozialeren Welt nirgends in Sicht ist, regiert allenthalben ein desillusioniertes Weiter-so.

Nun zeigt zwar das „befremdliche Weiterleben des Neoliberalismus“, so der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch, wie umfassend die Hegemonie ist, die dieses wirtschaftspolitische Paradigma nach dem Fall des Ostblocks errungen hat. Gleichwohl hat die Hegemonie Risse bekommen, was sich darin ausdrückt, dass der negativ konnotierte Begriff „Kapitalismus“, der noch Ende der neunziger Jahre fast tabu war, wieder hoffähig geworden ist. Selbst in konservativen Medien finden inzwischen kapitalismuskritische Töne Platz. Dabei dominiert allerdings ein Krisennarrativ, das in der „Gier der Banker“ die Wurzel allen Übels sieht. Eine solche Deutung der Krise, die gleichermaßen von Occupy-Aktivisten wie von konservativen Intellektuellen vertreten wird, versperrt aber den Blick auf deren systemische Ursachen, die eben in der Deregulierung der vergangenen Jahrzehnte liegt. Statt zu analysieren, wird personalisiert, moralisiert, dämonisiert.

Schlimmer noch: eine solche Rhetorik knüpft an die Tradition regressiver Kapitalismuskritik an, die in den antidemokratischen Bewegungen der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts beheimatet war. Bereits 2005, als in Deutschland die „Heuschreckendebatte“ tobte, führte die IG Metall idealtypisch vor, was die Elemente einer solchen Kapitalismuskritik sind: Auf dem Titelblatt ihrer Mitgliederzeitschrift war eine frech grinsende Stechmücke mit Zylinder und US-Flagge zu sehen. Darunter war zu lesen: „Die Aussauger – US-Firmen in Deutschland“. Die in der Karikatur enthaltene Botschaft ließ keinen Zweifel zu: Es sind fremde Schädlinge, die einen eigentlich gesunden Volkskörper befallen. Ein solcher Diskurs erzeugt gerade in den stark gebeutelten südeuropäischen Ländern ein explosives Gemisch, abzulesen an der wachsenden Popularität neonazistischer Strömungen, die bei den letzten Wahlen in Griechenland sieben Prozent erringen konnten. Deren Erfolg basiert auf einfachen Erklärungen: Es sind die Fremden, die schuld an unserer Verelendung sind.

Immer noch wertvoll: die internationale Solidarität

Im Zentrum einer Kapitalismuskritik von links müsste dagegen der neoliberale Kurzschluss stehen, individuelle Freiheit mit der Entsolidarisierung der Gesellschaft zu verwechseln. Es ist das historische Verdienst der Arbeiterbewegung, dass sie die vereinzelten Lohnabhängigen organisierte und zur Solidarität bewegte. So wurden höhere Löhne, die Arbeitslosenhilfe sowie Kranken- und Rentenversicherung erkämpft, die Grundlage für eine einigermaßen freie Entfaltung persönlicher Potenziale. In neoliberaler Perspektive sind diese sozialen Errungenschaften bloße Hemmnisse für das Wirtschaftswachstum. Die Lehren marktradikaler Ökonomen wie Milton Friedman betrachten Gewerkschaften als Kartelle, die das Angebot an Arbeitskräften künstlich verknappen und damit nicht nur eine Gefahr für die Wirtschaft, sondern für die Demokratie darstellen.

Entgegen einer solchen Perspektive, die allem Widerstand gegen den ungezügelten Kapitalismus pauschal Totalitarismus unterstellt, müsste die Linke den Wert der Solidarität hochhalten und gegen die Angleichung der Lebensstandards nach unten Stellung beziehen. Diese stellt nämlich die größte Gefahr für die Demokratie dar, weil soziale Spannungen immer schon Chauvinismus und Fremdenfeindlichkeit befördert haben. Zum Besten aus der Tradition der Arbeiterbewegung gehört der Gedanke der Solidarität über Grenzen hinweg. Antworten auf die Krise lassen sich unter den Bedingungen der globalisierten Wirtschaft ohnehin nur im grenzüberschreitenden Miteinander finden. Dass etwa die Occupy-Proteste mühelos von einem Land aufs andre übersprangen, lässt hoffen.

Historisch sind die Begriffe des Sozialismus und des Kommunismus diskreditiert durch die linken Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Nicht diskreditiert sind aber die mit ihnen verbundenen Hoffnungen auf ein besseres Leben jenseits von Ausbeutung und Armut. Vielleicht wäre es an der Zeit, diese Begriffe wieder aufzugreifen, sie neu zu denken und mit frischem Leben zu füllen. Wäre das nicht aller Mühe wert?