Soziologin Jutta Allmendinger „Man bemitleidete mein Kind, ich galt als Rabenmutter“

Die Soziologin Jutta Allmendinger hört nach 17 Jahren als Direktorin des Wissenschaftszentrums Berlin dort im Herbst in dieser Position auf. Foto: imago/Jürgen Heinrich

Die Soziologin Jutta Allmendinger, 67, erzählt , warum sie als junge Professorin aneckte, erklärt, wie Home Office Frauen schaden kann und kritisiert das zögerliche Vorgehen der Ampelregierung beim geplanten Partnerurlaub für Väter.

Sie prägt wie keine andere das Bild soziologischer Wissenschaft in der Öffentlichkeit: Die Professorin Jutta Allmendinger berät die Bundesregierung und Institutionen, wurde angeblich als Kandidatin für das Bundespräsidialamt gehandelt. Nach 17 Jahren als Direktorin des Wissenschaftszentrums Berlin hört sie dort im Herbst auf. Im Interview spricht sie über ihre Kindheit in Baden-Württemberg, ihre Geschlechterforschung und Hoffnungen für die Familienpolitik.

 

Frau Allmendinger, Sie stammen aus Mannheim. Mit welchem Familienbild sind Sie im Baden-Württemberg der 50er und 60er aufgewachsen?

Es war das westdeutsche Familienbild. Das traditionelle Ernährermodell mit einem Vater, der Vollzeit erwerbstätig war, und einer Mutter, die sich um Kinder und Haushalt kümmerte – also mit nicht bezahlter Arbeit der Mutter und bezahlter Arbeit des Vaters.

Ist Ihnen das negativ aufgefallen?

Ja, denn meine Eltern hatten beide ein abgeschlossenes Studium. Wenn dann die Mutter aufhört, in ihrem Beruf zu arbeiten, ist das schon sehr bemerkenswert. Insbesondere wenn man sie als Tochter eigentlich als die Schlauere von beiden empfindet.

Ihr Vater ist früh verstorben, was hat sich dann verändert?

Meiner Mutter blieb nichts anderes übrig, als auf den Arbeitsmarkt zu gehen, was mit drei Kindern alles andere als einfach war. Es gab keine Ganztagsschulen, mein Bruder war erst acht. Insofern habe ich früh erfahren, was es heißt, sich als Frau abhängig zu machen.

Als Sie selbst ein Baby bekamen, waren Sie Professorin in München – und sind nicht lange in Elternzeit gegangen.

Ich war zuvor lange in Amerika. In den USA kennt das Sozialsystem keine Freistellung von Müttern, es ist also ganz normal, dass Frauen schnell wieder arbeiten gehen. Zudem gab es dort viel mehr Professorinnen an Universitäten. Auch das war also nicht ungewöhnlich.

In München war das anders?

Da war ich eine von sehr wenigen Professorinnen und wohl die erste, die als Professorin ein Kind bekam. Beides war also eher ungewöhnlich, in der Kombination erst recht. Das hatte ich mir nicht klargemacht. Da es meinem Sohn und mir gut ging und meine Mutter in München aushalf, konnte ich schnell wieder an die Uni zurück, um allen die Möglichkeit zu geben, ihr Semester abzuschließen. Später bin ich dann montags von Bremen nach München gependelt, donnerstagabends zurück. Mein Sohn wurde von beiden Elternteilen erzogen.

Aber das kam nicht gut an?

Nicht wirklich. Die Vorbehalte waren groß. Man bemitleidete mein Kind, ich galt als Rabenmutter. Damit hatte ich nicht gerechnet.

Heute würden die Reaktionen auf eine Professorin mit Baby anders ausfallen.

Klar. Heute gibt es wesentlich mehr Frauen auf Professuren, ein Glück. Und viele bekommen auch Kinder. Das aber heißt nicht, dass es Frauen mit kleinen Kindern leicht haben in der Wissenschaft und in anderen Bereichen.

Was hat sich bezüglich der Geschlechtergerechtigkeit verbessert?

Frauen haben bei der Bildung extrem aufgeholt. In der Generation meiner Mutter haben nur knapp fünf Prozent der Frauen Abitur gemacht und ein Studium abgeschlossen. Jetzt sind es mehr als 50 Prozent. Mehr Frauen sind heute berufstätig. Natürlich arbeiten viele in Teilzeit, aber das rein männliche Versorgermodell gibt es heute selten. Es gibt auch viel mehr Hilfen für Frauen im Arbeitsmarkt. Gleichstellungsbeauftragte, Ombudspersonen, Quoten. Einige Frauen meinen sogar, dass sie sich im Arbeitsmarkt besser aufgehoben fühlen als zu Hause, wo sie sich ständig verteidigen müssen.

Inwiefern?

Nun ja, noch heute geht man davon aus, dass Frauen sich um die Kinder zu kümmern haben. Gehen sie früh in den Beruf zurück, müssen sie sich rechtfertigen. Nehmen sie lange Auszeiten, schadet das der Karriere und sie bekommen gesagt, dass sie es ja nicht anders wollten. Eine „No win“-Situation.

Also ist der Arbeitsmarkt schon weiter als das Private in dem Fall.

So könnte man es fassen. Das geht allerdings auf Kosten der Familienbildung. Viele Frauen setzen ganz auf den Arbeitsmarkt. Das „Und“ zwischen Beruf und Familie geht verloren.

Sie forschen auch zu kulturellen Frauen- und Männerbildern. Welchen Einfluss haben sie auf Gleichberechtigung?

Ich unterscheide zwischen Kulturen und Strukturen, beide beeinflussen Frauen- und Männerbilder. Ein Beispiel für Strukturen ist das Ehegattensplitting, das klare Anreize für zwei unterschiedlich hohe Gehälter setzt und handlungsleitend wirkt. Die kostenlose Mitversicherung und die sozialversicherungsfreien Minijobs sind weitere Beispiele. Meistens sind es Frauen, die dann eben weniger lang arbeiten. Kulturen tun das ihre und sind auch gut abzubilden.

Wie machen Sie das?

Ein Beispiel sind Einladungen zu Vorstellungsgesprächen. Wir haben fiktive Initiativbewerbungen an große Unternehmen geschickt. Die Anschreiben unterschieden sich nur in zwei Punkten, Geschlecht und Dauer der Elternzeit, die einmal zwei Monate und einmal 12 Monate betrug. Als dann die Einladungen reinflatterten, stellten wir fest, dass bei Männern die Dauer der Elternzeit keinen Unterschied machte, bei Frauen aber schon. Frauen mit nur zwei Monaten Elternzeit wurden viel seltener eingeladen als Frauen mit 12 Monaten Elternzeit.

Warum?

Weil Mütter mit zwei Monaten Elternzeit als eher übermotiviert und sehr ambitioniert galten, als Rabenmütter eben. Man fragte sich, ob sie denn gut ins Team passen. Ein weiteres Beispiel sind unsere Untersuchungen zum Datingverhalten. Hier haben wir allein die Berufe von Frauen und Männern auf einer Dating-App verändert, einmal war die Frau in einem Männerberuf, einmal in einem Frauenberuf tätig. Entsprechend gingen wir bei Männern vor. Arbeitete die Frau in einem typischen Frauenberuf, flogen ihr viel mehr Herzchen zu als in einem Männerberuf. Und Männer in Männerberufen waren für Frauen attraktiver als Männer in Frauenberufen. Auch so werden Frauen und Männer festgehalten in dem, was als typisch männlich oder typisch weiblich gilt.

Heute gibt es manche Frauen, die sagen, wir sind längst gleichberechtigt. Kann die Forschung das denn bestätigen?

Hier müssen wir unterscheiden zwischen Gleichberechtigung und tatsächlicher Gleichstellung. Gleichberechtigung ist überwiegend gegeben, die Gleichstellung aber bei Weitem nicht erreicht. Dies liegt an den Faktoren, die ich gerade beschrieben habe. In einem Land, in dem es an Kindertagesstätten und Ganztagsschulen fehlt, ist es echt schwer für beide Elternteile, Vollzeit zu arbeiten. Traditionen bestimmen dann das Verhalten, und Frauen widmen sich der unbezahlten Kinderbetreuung. Dadurch entstehen riesige Lohnlücken zu Männern. Vergleicht man das Lebenseinkommen eines 1974 geborenen Vaters von zwei Kindern mit dem Lebenseinkommen einer 1974 geborenen Mutter von zwei Kindern beläuft sich der Unterschied auf 1 Million Euro. Dies liegt an der vielen Teilzeitarbeit, der niedrigeren Bezahlung von Frauenberufen und einer gebremsten Karriereentwicklung.

Was müsste sich noch ändern?

Wir müssen die bezahlte und unbezahlte Arbeit zwischen Müttern und Vätern gleicher verteilen. Die Produktivität von Frauen würde steigen, Karrierewege und Lebenseinkommen würden sich angleichen. Im Moment nimmt aber nicht einmal jeder zweite Vater Elternzeit.

Obwohl man all das weiß, wird weiter an Strukturen wie dem Ehegattensplitting festgehalten. Warum?

Ich weiß es nicht. Zumal niemand fordert, dass das von heute auf morgen geschieht. Es braucht einen Einstieg in den Ausstieg. Es braucht eine Förderung von Kindern, nicht der Ehe. Wir haben einen Fachkräftemangel und brauchen die Kompetenzen aller. Neben Deutschland kennen nur Luxemburg und Polen ein vergleichbares Ehegattensplitting.

Während der Pandemie haben Sie eine Retraditionalisierung der Rollen festgestellt. Sind die Folgen noch spürbar?

Wir messen bei Frauen noch immer eine höhere mentale Belastung und Stress im Vergleich zur Zeit vor Corona. Das liegt auch daran, dass das Homeoffice zwar gut für das Miteinander von Beruf und Familie ist, allerdings gerade für Mütter oft recht belastend ist. Sie sind die ersten Ansprechpartnerin ihrer Kinder. Sie haben seltener ein ruhiges Fleckchen in der Wohnung.

Wie zufrieden sind Sie mit der Geschlechter- und Familienpolitik der Ampelregierung?

Die Regierung hat schon einiges geleistet. Das Gute-Kita-Gesetz hilft Kindern. Die Erhöhung des Kindergeldes auch. Die Überlegungen zur Kindergrundsicherung haben sich weiterentwickelt. Der höhere Mindestlohn hilft vielen Müttern. Die Maßnahmen gegen häusliche Gewalt sind wichtig. In der verbleibenden Zeit werden hoffentlich die Vätermonate erhöht, wie im Koalitionsvertrag angekündigt.

Die Elterngeldreform sieht vor, dass der Vater mindestens einen Monat allein Elternzeit nimmt. Fördert das die gleichberechtigte Aufgabenverteilung?

Die Forschung zeigt, dass davon auszugehen ist. Ist der Vater zwei, drei Monate allein für die Kinder verantwortlich, fühlt er sich auch zukünftig eher für die Kinder und die Hausarbeit zuständig. Auch die bezahlte Freistellung des Partners direkt nach der Geburt hätte diese Wirkung gehabt. Sie fördert Partnerschaftlichkeit in der Beziehung und erlaubt es Frauen, schneller wieder erwerbstätig zu sein. Es erschließt sich mir nicht, warum man so viele Potenziale einfach liegen lässt.

Sie hören im Herbst als Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung auf. Denken Sie schon an die Rente?

Es tut einer Institution gut, nach 17 Jahren eine neue Leitung zu bekommen. Und es tut auch mir gut, da sich mit der Zeit viele Arbeitsabläufe wiederholen und ich abgeschlossen habe, was ich mir vorgenommen habe. Jetzt freue ich mich auf mehr Zeit für andere spannende Funktionen, von der Aufgabe als päpstliche Beraterin bis hin zur Aufsichtsrätin der Stadtreinigung.

Was rät man denn dem Papst?

Frauen ernster zu nehmen.

Werdegang und Veranstaltung

Werdegang
Jutta Allmendinger, geboren 1956 in Mannheim, ist seit 2007 Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, einer außeruniversitärer Forschungseinrichtung mit knapp 400 Mitarbeitenden. Allmendinger war zuvor Professorin für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie Direktorin des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Allmendinger ist in vielen Beiräten und Gremien, außerdem ernannte Papst Franziskus sie 2021 zum Mitglied der Päpstlichen Akademie der Sozialwissenschaften.

Diskussion
Das Frauennetzwerk EWMD (European Women’s Management Development) hat in Kooperation mit dem Business Netzwerk „LeaderIn“ Jutta Allmendinger am Mittwoch, 28. Februar, zum Themenabend „Es geht nur gemeinsam“ nach Stuttgart eingeladen. Dabei diskutieren 100 Frauen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft mit Jutta Allmendinger Fragen der Gleichstellung. Mit auf dem Podium sind unter anderem auch Landtagspräsidentin Muhterem Aras und die CDU-Landtagsabgeordnete Natalie Pfau-Weller.

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