Spätaussiedlerfamilie Nikolaus aus Lauffen Süße Heimat Siebenbürgen

Familie Nikolaus in Heldsdorfer Tracht: Betina (links) mit ihrem Mann Thomas, den Kindern Hanna und Max sowie ihren Eltern Eugen und Hildegard Zerbes Foto: Gottfried Stoppel/Gottfried Stoppel

Ein Mal im Jahr ist die Kleinstadt Dinkelsbühl in der Hand von Spätaussiedlern.Dann treffen sich Zigtausend Siebenbürger Sachsen. Familie Nikolaus ist immer dabei.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Was ist das? Karneval im Sommer? Ein bundesweiter Mittelaltertreff? Oder wird hier ein Monumental-Heimatfilm gedreht? Ganz Dinkelsbühl treibt anscheinend Maskerade. Aber das sind keine Mimen, keine Jecken, Junker oder Burgfräuleins. Das sind Siebenbürger Sachsen. Sie verwandeln die fränkische Kleinstadt an diesem Wochenende in eine Art Woodstock für Spätaussiedler.

 

3000 Leute in Trachten versammeln sich nach und nach an ihren Ausgangspunkten für den jährlichen Heimattagsumzug. Senioren mit knielangen Ledermänteln und kolossalen Pelzhüten. Mädchen mit Rüschenhäubchen. Männer in Schaftstiefeln, mit Ray-Ban-Sonnenbrillen und reich verzierten Gürteln, die an Komantschen bei Karl May erinnern. Bestimmt sind sie auch gute Bisonjäger. Frauen in Schnürstiefeletten, Tüllschürzen und goldbestickten Leibchen: Man merkt ihnen an, dass sie sich schön finden.

Die Kapelle spielt sich ein. In Campingtaschen liegen gekühlte Bier- und Wasserflaschen bereit. Nicht, dass bei der Hitze noch jemand umkippt. Ein körperrundes Mütterchen hat Kuchen dabei, den sie wahrscheinlich bald großzügig verteilt: „Kindärr, ässst!“ Ein Baby wird in einem bordsteinhohen Holzwägelchen durch die Menge gezogen.

Drei Generationen am Start

Auf dem Gehweg stehen Schilder mit Städtenamen, damit die 100 Gruppen sich geordnet aufstellen. Schwer genug bei dem Gewusel. Vorne sind die Tänzer aus Bistritz. Nummer 58 sind die Heldsdorfer. Hierhin gehört Familie Nikolaus aus Lauffen am Neckar. Sie geht mit drei Generationen an den Start. Thomas Nikolaus, 42, sieht mit seinem Gehrock aus wie ein Gardeoffizier. Sein Vater, der Fahnenträger, fehlt. Er kommt nicht durch, kann sich aber später gerade noch vor dem Rathaus einreihen. Die zwölfjährige Tochter ist hübsch hergerichtet mit Zöpfen und einem Kleid, das schon ihre Mutter als Mädchen trug. Aber sie ist grätig. Sitzt auf dem Leiterwagen mit den Tischdecken, auf denen „Siebenbürgen süße Heimat“ gestickt ist, und alles an ihr sagt: Was mach ich hier bloß? „Sie hat keine Lust“, sagt die Mutter.

Vor 850 Jahren folgten Bewohner der Moselregion dem Ruf des ungarischen Königs und zogen nach Transsilvanien. Sie nannten sich Siebenbürger wegen der sieben Siedlungen, mit denen alles anfing. Die Einheimischen sagten der Einfachheit halber Sachsen zu ihnen.

Im 16. Jahrhundert wurde das ungarische Reich von den Osmanen zerschlagen, Siebenbürgen fiel an die Türken. 150 Jahre später, Österreich hatte die Osmanen vor Wien besiegt, herrschten dann die Habsburger. Nach dem Ende der Donaumonarchie gehörte das Gebiet zu Rumänien. Bis 1944 die Kommunisten kamen, dominierten die Siebenbürger eine Provinz so groß wie Kroatien mit ihrem „sächsischen Kapitalismus“.

Über all die Jahrhunderte waren sie immer auf ihrer Insel geblieben. Man versicherte sich durch starre Bräuche, Glaubens- und Gesellschaftsregeln seiner selbst und grenzte sich ansonsten ab, um in widrigen Zeiten zu bestehen. So hat sich auch das „Siweberjesch“ bis heute in seiner Urform gehalten. Es heißt, der alte moselfränkische Dialekt habe viel vom Luxemburgischen.

Herzliche Wünsche vom Bundeskanzler

Nach dem Umzug mischen sich die Trachtenträger unter die Zigtausend Besucher. Ein großes Hallo auf den Straßen, Händeschütteln, Schulterklopfen, Umarmungen. „Schön, dass du dabei bist.“ – „Vaurichst Johr geng der Zuch schneller.“ An Ständen schwitzen die traditionellen Hackfleischröllchen Mici auf den Grills, es gibt Holzfleisch mit Pfeffer und Knoblauch, Kuttelsuppe, Langosch. Vor dem Rathaus spielt eine Kapelle die „Gablonzer Perlen Polka“. Wer nicht mitsingt, führt Gespräche.

„Men Soan as veroindert, huet zwei Keind ent baat en Heus an Ingolstadt.“ – „Men Soan as och veroindert.“ – „Huet e och Keind?“ – „Nei, nichen Keind.“

„Die haben da einen Grill, sag ich dir, sechs Meter groß!“

„Mir liewen an Bönnigheim, doat as bei Ludwigsburg.“ – „Doat kanne ech. Dou hu mer och Verwaindscheft, an Fellbach.“

Natalie Pawlik, Beauftragte der Bundesregierung für nationale Minderheiten, übermittelt in ihrer Rede herzliche Wünsche von Olaf Scholz und Nancy Faeser: „Die Siebenbürger sind eine große Familie. Und sie zeigen uns: Nur miteinander schaffen wir es. Heimat ist ein Miteinander von allen, die in diesem Land wohnen, unwichtig, woher sie kommen. Das Zusammenleben zählt.“

Abseits des großen Trubels stimmen ein paar junge Männer „Schwer mit den Schätzen des Orients beladen“ an. Das Lied hat auch schon 200 Jahre auf dem Buckel. Das Publikum auf Schrannen ist textsicher. Zwei Teenager gehen spazieren. Er: „Meine Großmutter stammt von dort.“ Sie: „Wie schön.“ Die Kapelle spielt „Böhmische Liebe“.

„Das hier ist für viele wie heimkehren, das spürt man“, sagt Gerda Hasselfeldt, Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes, in ihrer Ansprache. „Warum ist es Ihnen so vorbildlich gelungen, sich mit Ihren kulturellen Besonderheiten hier einzufügen? Weil Sie sich immer aktiv eingebracht haben. Weil Sie uns Ihren Fleiß, Ihre Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit haben immer spüren lassen. Ihr Zusammengehörigkeitsgefühl tut uns gut als Gesellschaft. Dazu gehört auch die Pflege von Brauchtum und Traditionen.“

Familie Nikolaus hat sich auf dem Parkplatz umgezogen und feiert in Zivil weiter bis in den Spätabend. Die Großeltern fahren die Kinder heim, die Enkelin hat genug. Verspürt auch kein Interesse am Zeltlager, das die Siebenbürger Jugend immer zur Partymeile macht. Auch nicht am Volleyballturnier, an der Ausstellung „Eine Tracht Heimat“ oder am Modellraketenbau.

„Hanna ist uns zuliebe mitgegangen, das fand ich gut“, sagt Betina Nikolaus, 42. Viele steigen in Hannas Alter aus, gehen nicht mehr in die Jugendtanzgruppe, wollen nichts von den Reiterferien wissen und treffen sich lieber mit Klassenkameraden. „Aber Freundschaften sind angelegt“, sagt die Mutter. „Vielleicht wird ja, wenn man sich später irgendwann sieht, wieder etwas wachgeküsst.“

Bei Thomas und Betina war es so. Sie gingen schon in Heldsdorf zusammen in den Kindergarten. Irgendwann verloren sie sich aus den Augen. Zeitweilig hatten sie andere Partner, für die war Siebenbürgen weit weg. Beim Heimattag 2007 sahen sie sich wieder. Er trug die Fahne, sie ging dahinter.

Heute haben sie zwei Kinder und ein Reihenhaus in Lauffen am Neckar. Er ist gelernter Mechaniker und Projektleiter bei Bosch, sie ist Krankenschwester. Der Freundeskreis, sagt sie, bestehe zu 70 Prozent aus Siebenbürger Sachsen. „Unser Leben sonst ist zu 70 Prozent reell“, sagt er. Seit mehr als 25 Jahren ist Thomas Nikolaus Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr von Lauffen.

Daheim reden sie nur Siebenbürgisch. Die Kinder machen nicht mehr mit, verstehen es aber noch. „Dabei haben sie bis zum Kindergartenalter fast nur Siweberjesch gesprochen. Aber dann kam ein völliger Cut. Schade“, sagt Betina Nikolaus. „Vielleicht haben wir das nicht konsequent genug verfolgt.“

Getrennte Kindergärten für Rumänen und Siebenbürger Sachsen

Thomas und Betina waren neun Jahre alt, als ihre Familien aussiedelten. Es sei immer ein Nischenleben in Heldsdorf gewesen, sagt er. Getrennte Kindergärten für Deutsche und Rumänen, getrennte Schulen, getrennte Kirchen, selbst die Friedhöfe waren separiert. „Es gab beiderseits wenig Interesse an einem Zusammenleben“, sagt sie. Bei ihren Konzerten, Tanzaufführungen, Theaterabenden luden die Sachsen halt den Bürgermeister und den örtlichen Polizeichef ein, weil sich das so gehörte. Das war es dann aber auch mit der Berührung. Zwei Welten in einem Dorf. Lange schon.

Im Zweiten Weltkrieg mussten wehrpflichtige Siebenbürger in der rumänischen Armee dienen, die zunächst an der Seite der Nazis kämpfte. 1943 traten im Zuge einer Massenrekrutierung die meisten freiwillig in die Waffen-SS und Wehrmacht ein, wo sie besser behandelt, besser ausgestattet, besser bezahlt wurden. Vor allem aber überwog eine kritiklose und verklärte Bewunderung allen Deutschtums. Das problematischste Kapitel der Siebenbürger Geschichte – dem unmittelbar das tiefste Trauma folgen sollte.

1944 wechselte Rumänien die Seite und schloss sich den Alliierten an. Jetzt waren die Deutschen Feinde, jetzt rechnete man mit den verbliebenen Siebenbürgern ab: Enteignung, Unterdrückung, Deportation. 306 Männer und Frauen aus Heldsdorf wurden zur Zwangsarbeit in alle Winkel des Sowjetreichs verschleppt. 47 starben an Kälte, Hunger und Entkräftung. Die Alten erinnern sich noch an Erzählungen im Dorf: von Heinrich und seinen düsteren Bleistiftzeichnungen, die er aus den Kohleminen im Donezbecken mitbrachte. An Georg, ein Baum von einem jungen Mann, der mit 16 Jahren verschleppt wurde und nie mehr heimkam.

Es gab die rumänischen Gesetze. Und es gab die ungeschriebenen Regeln der Siebenbürger Sachsen, die vielleicht noch wichtiger waren. Nichts Schlimmeres, als aus der Gemeinschaft verstoßen zu werden. Eine Beisetzung zu versäumen galt als gravierendes Vergehen. Der Vater von Thomas hat einige seiner Nachbarn zu Grabe getragen. „Jeder musste als eine Art Sozialversicherung 100 Lei in eine Sterbekasse zahlen, dafür war dann für das Begräbnis gesorgt“, sagt Georg Nikolaus, 68. Mischehen waren zu seiner Zeit sehr verpönt. Dass eine Cousine damals einen Rumänen heiratete, wurde äußerst kritisch beäugt. Sie führen aber eine gute Ehe, wie man hört.

Georg Nikolaus arbeitete als Elektriker in der staatlichen Riesenfarm für Hühner. 1978 gründete er seine eigene Familie. „Die Mangelwirtschaft war ständig präsent“, sagt er. „Kein Waschpulver, kein Klopapier. Wir kochten Seife aus Schweinefett nach dem Schlachten.“ Die Familie besaß zwar einen Fernseher, doch der einzige Sender strahlte nur von 20 bis 22 Uhr Programm aus, meist Ceaușescus Reisen durch das Land. Jeden Mittwoch wurde ein Film gezeigt, danach war Sendeschluss. „Unsere Abende verbrachten wir mit Rommé und Stricken.“

Um die ewig leere Staatskasse zu füllen, ließ Präsident Ceauşescu seit den 60er Jahren rund 200 000 Rumäniendeutsche von der BRD freikaufen. Um aber überhaupt auf die Liste zu kommen, musste man erst Geld an den „schwarzen Mann“ entrichten. Ein Phantom im Ort, dessen Identität im Dunkeln blieb, ohne den aber nichts ging. Betinas Eltern zahlten ihm 50 000 Lei (bei 2000 Lei Monatsgehalt) für ihre Ausreise. Hatten sie es wirklich mit dem schwarzen Mann zu tun? Sie hörten nichts mehr von ihm. Drei Monate später standen eh alle Schleusen offen.

Deutschland war das Zauberwort“

Nach Ceaușescus Sturz 1989 wollten alle weg. „Deutschland war das Zauberwort“, sagt Hildegard Zerbes, 67, die Mutter von Betina. Familie Zerbes landete in der Turnhalle von Schorndorf. „Es war ja gut vom Staat, dass er uns eine Unterkunft bereitstellte. Aber ich hab viel geheult.“ Sie klammerte sich an der Heimat fest. Tochter Betina besaß eine Sonnenbrille mit rosa Gläsern: „Es klingt verrückt, aber durch diese Brille konnte ich alles ein bisschen schöner sehen“, sagt Hildegard Zerbes.

Der erste echte Lichtblick war ein Besuch von Heldsdorfern in der Turnhalle. Von da an ging es bergauf. Ihr Mann Eugen fand Arbeit als Schlosser. Sie fing in der Küche eines Cafés an. Derweil kamen sie mit sechs Familien in einem Pfarrhaus unter, das fühlte sich schon viel privater an. Danach bezogen sie eine einfache Wohnung in Rutesheim. Nicht lange, und sie bauten ein Haus, zusammen mit drei Heldsdorfer Familien. Wie daheim.

Alle paar Jahre fahren Thomas und Betina Nikolaus in die alte Heimat, die Kinder waren natürlich auch schon dabei. „Es gibt da nicht so viele Autos, eher Pferdewagen“, ist dem elfjährigen Max-Thomas aufgefallen. „Na ja, ganz so ist es auch nicht“, meint seine Mutter. Das Gefälle sei nicht mehr so enorm wie noch vor Jahren, vieles inzwischen renoviert. Sie erzählt von Bernd, einem Cousin zweiten Grades, der wieder zurückging, weil er in Deutschland einfach nicht heimisch wurde. Ihr Elternhaus steht jetzt leer.

Im Jahr 1997 entschuldigte sich der rumänische Außenminister beim deutschen Außenminister Kinkel. 2013 verabschiedete das Parlament in Bukarest ein Gesetz über Entschädigungszahlungen für die nach dem Weltkrieg Deportierten. 2020 wurde es auch auf deren Kinder ausgeweitet.

In Rumänien sind von den einst 300 000 Siebenbürger Sachsen noch 15 000 übrig geblieben. In Hălchiu, wie Heldsdorf im Rumänischen heißt, sind es noch 30 – bei dreimal so viel Kirchenmitgliedern. Einige Rumänen und Ungarn, die mit Siebenbürger Sachsen verheiratet sind, haben den evangelischen Glauben angenommen. Und dann gibt es auch ein paar alte Heldsdorfer, die stützen die Gemeinde von außen. Georg Nikolaus gehört zu ihnen. Diesen Sommer will er wieder hinfahren, um mit anderen den Siebenbürger Friedhof zu richten. Stein um Stein, Mauer für Mauer. So versuchen sie, unter dem Dach der Kirche ihr Erbe zu retten.

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