Bei einem Format des Spirituellen Zentrums im Weinberg finden Menschen zu sich und zu Gott. Auch so wünscht sich Stadtdekan Christian Hermes die Kirche.

Was ist Kirche? Darauf gibt es viele Antworten. Aber im Grunde ist es der Ort, an dem Menschen Religion praktizieren. Religion ist aus den lateinischen Begriffen religio und religare entstanden. Einfach übersetzt: Religion ist Bindung an einen Glauben, die Verbindung zu etwas Transzendentem, Göttlichem. Allerdings muss dieser Ort nicht zwangsläufig ein Kirchenraum sein. Und nicht immer müssen nur traditionelle Riten praktiziert werden. Kirchen, die sich der gegenwärtigen Lebenswirklichkeit annähern, haben längst erkannt, dass es auch andere Methoden zur Gotteserfahrung gibt. Diesen Weg geht das Spirituelle Zentrum der katholischen Kirche konsequent und mutig. Auch aus Notwendigkeit. Denn immer mehr Menschen sind durch klassische Angebote nicht mehr zu erreichen.

 

Neues wagen

Und damit setzt das Leitungsduo Kirstin Kruger-Weiß und Stefan Karbach das um, was sich Stadtdekan Christian Hermes unter Stadtkirche vorstellt: nah an den Menschen sein, Neues wagen, sich in gesellschaftlichen und sozialen Fragen auf der Höhe der Zeit zeigen. Dass es dabei nicht zwangsläufig zu einem Bruch mit den Traditionen kommen muss, zeigt das Spirituelle Zentrum. Bei vielen Angeboten unter dem Modewort Achtsamkeit wandeln sie auf den Spuren von Mystikern wie Meister Eckhart oder Hildegard von Bingen und den Kirchenvätern.

Auch bei dem jüngsten Angebot – dem „Der Stille und Weite entgegen gehen“, einen achtsamen Abend auf dem Rotenberg. Es ist ein Mix aus meditativem Gehen, Qigong und anderen Körper- und Achtsamkeitsübungen. Außerdem sollen spirituelle Texte von Hildegard von Bingen, Franziskus und anderen Schöpfungsmystikern helfen, die Perspektiven auf Gott und die Welt zu weiten. „Mit dem aufmerksamen Eintauchen in die Natur nehmen wir die Verbindung zu ihr wieder auf“, ist Kruger-Weiß überzeugt. Sie versucht, das Alte ihrer Kirche zu bewahren, aber mit den Methoden der fernöstlichen Traditionen zu verbinden.

In der Natur Gott erfahren

Dass Naturerfahrung auch Gotteserfahrung sein kann, wird an diesem Abend unter dem Württemberg deutlich, bei allen 15 Teilnehmern. Sie erfahren es zwar unterschiedlich, meinen aber im Grunde dasselbe: In der Natur wird die absolute Wirklichkeit transparent. In ihr bekommt Gott einen überwältigend starken Ausdruck. „Natur ist für mich Gottesdienst“, sagt eine Teilnehmerin und hört andere sagen: „Natur ist für mich etwas Unmittelbares“, „Natur erdet mich“, „Natur gibt Ruhe und relativiert“. Oder das Leitwort von Kirstin Kruger-Weiß: „Berge sind stille Meister und machen schweigsame Schüler.“

In den drei Stunden am Berg sollen die Teilnehmer in die Stille kommen. Kontemplation erfahren. Also nichts anderes als Wahrnehmen und Schauen. Auch nach innen: Kontemplation ist demütiges Schauen Gottes. Nur hier geschieht eben alles in der Natur. An einem Kraftort, wie Kruger-Weiß sagt: „Das Äußere überträgt sich in mein Inneres. Es ist, als wäre ich dem Himmel näher.“ Und wieder nutzt sie dabei den Begriff „Verbindung aufbauen“, als sie den Teilnehmern nur das feste Stehen lehrt. Wäre man in einer Yogastunde (Yoga heißt Verbindung) würde man sagen: Die Theologin stellt ihre Teilnehmer in Tadasana, in die Berghaltung. Tatsächlich unterfüttert sie den festen Stand am Rotenberg mit einem Hildegard-Zitat: „Mensch! Du hast doch Himmel und Erde in dir.“

Spätestens nach sieben Etappen Gehen, Spüren, Hören, Achtsamkeit und Meditieren wissen alle genau, was die Mystikerin aus Bingen damit gemeint hat. Vielleicht sogar besser als nach einem Gottesdienst. So beantwortet sich am Ende die Frage „Was ist Kirche?“ von selbst. Es ist der Raum für Gotteserfahrung. Ganz gleich, ob hinter Mauern oder im Weinberg. Was noch wichtiger ist: Damit spricht man Menschen an, die sonst keinen Kontakt mehr zu Kirche haben.