Bei der Europawahl steht eine Frage im Zentrum: Gelingt das demokratische Experiment mit den Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionschefs? Das Europaparlament ist dafür, doch die Regierungschefs sind skeptisch.
Brüssel - Martin Schulz und Jean-Claude Juncker liegen in vielen Punkten nah beieinander. In einem Punkt passt sogar kein Blatt zwischen den Spitzenkandidaten der europäischen Sozialisten und seinen christdemokratischen Kontrahenten: Beide argumentieren, dass nach dem ersten europaweiten Wahlkampf nun auch wirklich einer von ihnen der nächste EU-Kommissionschef werden müsse. Alles andere wäre „ein Anschlag auf die europäische Demokratie“ (Schulz) und würde letztlich dazu führen, dass „zur nächsten Europawahl gar niemand mehr geht“ (Juncker).
Tatsächlich spielt die Macht des Faktischen eine wichtige Rolle, wenn nach der Wahl der wichtigste Brüsseler Posten neu vergeben wird. Das wird auch im mächtigen Gremium der Staats- und Regierungschefs, dem Europäischen Rat, mittlerweile so gesehen. „Die Idee der Spitzenkandidaten“, sagt einer aus dem Umfeld von Ratspräsident Herman Van Rompuy, „hat eine gewisse Dynamik erzeugt, die wir mit ins Kalkül ziehen müssen.“
Aus dem Lissabon-Vertrag abgeleitete Regel
Für die Nachfolge von José Manuel Barroso nämlich, der einst von den Staats- und Regierungschefs ohne Rücksprache mit dem Europaparlament diesem zur Wahl vorgeschlagen wurde, gelten erstmals die Regeln des Lissabon-Vertrags. Der Europäische Rat nominiert demnach zwar weiter den Kandidaten, doch „berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament“, wie es in Artikel 17 heißt. Aus diesem Passus haben Europas Parteien das Konzept europaweiter Spitzenkandidaten abgeleitet.
Die beiden großen Fraktionen im Europaparlament sowie die der Liberalen haben sich im Vorfeld festgelegt, dass die größte Gruppe den ersten Versuch starten darf, eine Mehrheit für ihren Kandidaten aufzutreiben. Ganz generell wollen sie dafür kämpfen, dass nach den nun kommenden Verhandlungswochen einer ihrer Spitzenkandidaten zum Zuge kommt. „Der nächste Kommissionspräsident muss einer von ihnen sein“, heißt es in einer Erklärung von Joseph Daul (Christdemokraten), Hannes Swobodo (Sozialisten) und Guy Verhofstadt (Liberale). Applaus von allen Seiten erhielt Nochparlamentspräsident Martin Schulz während einer TV-Debatte für die Ankündigung, dass das Europaparlament „jeden anderen Kandidaten ablehnen wird“. Aus Van Rompuys Lager heißt es entsprechend, dieser wolle „alles tun, um eine institutionelle Krise zu verhindern“.
Schwierige Lage für Angela Merkel
Andernfalls kämen wohl auch die Staats- und Regierungschefs in Erklärungsnot. Schließlich haben sie bis auf den Briten David Cameron in ihrer Eigenschaft als Parteivorsitzende die Spitzenkandidaten nominiert – zwölf haben Schulz, elf Juncker und vier Verhofstadt Unterstützung zugesagt.
Gerade Angela Merkel steckt in einer schwierigen Lage. Juncker kann sie, falls die Christdemokraten vorn liegen, das Amt nur schwer verwehren, da die CDU ihn nominiert hat. Umgekehrt wäre es kaum einfacher: Nicht nur müsste die Kanzlerin den ersten deutschen EU-Kommissionschef seit Walter Hallstein verhindern, Ungemach drohte auch in der Berliner Koalition, wenn der SPD-Mann Schulz nicht zu Ehren käme. Nicht von ungefähr sind für Montag Koalitionsberatungen geplant, ehe am Dienstag die Staats- und Regierungschefs in Brüssel beraten.