Flüchtlinge aus Afghanistan und Pakistan tragen die hierzulande noch exotische Sportart ihrer Heimatländer in die Vereine – und die erleben ein kleines Cricketwunder, wie ein Besuch in Essen zeigt.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Essen - No, no, out“, ruft Brian Mantle. Nein, der Ball war im Aus. Das Durcheinander der Stimmen sagt, dass nicht alle einig sind mit seiner Entscheidung. Ein drittes sehr eindeutiges „No“ aus seinem Mund beendet den Disput. Das Wort des Schiedsrichter gilt, und alle sind sich auf einmal einig, als hätte es niemals auch nur den Hauch eines Zweifels gegeben. Avif Jamal (21), der am Spielfeldrand sitzt, notiert die Punkte. Auf geht’s, weiter. Die Zeit ist knapp.

 

Cricket, sagt Mantle, ist ein sehr diszipliniertes Spiel, kein Spiel für Raufbolde. Fouls gebe es nicht, da es keinen Körperkontakt gebe. Avifs Bruder Kilal ist als nächster Werfer dran. Der 17-Jährige greift nach dem Ball, nimmt kurz Anlauf, holt mit dem rechten Arm aus, sein Körper macht wippende Bewegungen, dann schleudert er den Ball in Richtung Batsman, den Schlagmann, der gegnerischen Mannschaft. Der Ball trifft das Wicket, die drei Stäbe, die der Schlagmann mit seinem Schläger eigentlich verteidigen soll. Kilal lacht.

Es wird an diesem Samstagmorgen viel gelacht in der Turnhalle der Hüttmannschule in Essen-Altendorf. „Sie haben so viel erlebt, aber für zwei, drei Stunden sind die Jungs glücklich“, sagt Brian Mantle selbst mit einem Strahlen in den Augen. Und wäre er nach 20 Jahren in Deutschland nicht immer noch so britisch zurückhaltend, er würde viel mehr Wind um das machen, was in den letzten sechs Jahren geschehen ist. Mantle ist ein Pragmatiker mit Herz, einer, der die Idee vom Zusammenhalt der Commonwealth-Nationen auch nach dessen Ende immer noch im Herzen und das am richtigen Fleck trägt. Als Geschäftsführer des deutschen Cricket-Verbandes könnte er von einem Cricketwunder sprechen.

Aber das tut er nicht. Er steht stattdessen einfach in der Essener Turnhalle und hält das Wunder am Laufen. Die Hallensprache ist Deutsch, manchmal Englisch und wenn es unter den Spielern einmal ganz schnell gehen muss Paschtun, denn die Spieler sind allesamt Afghanen.

Seit zehn Uhr morgens trainieren die Blue Tigers, wie sie sich nennen. Essen-Altendorf ist kein Nobelstadtteil der Ruhrpottmetropole. Das Miteinander unterschiedlicher Nationalitäten ist hier Alltag. Die Blue Tigers sind ein zusammengewürfelter Haufen von Flüchtlingen, manche von ihnen sind gerade mal drei Monate in Deutschland, andere schon ein Jahr oder länger. Es hapert zwar noch mit der Sprache, das Spiel jedoch beherrschen alle aus dem Effeff. Eine Erfahrung, die die Spieler bei vielen Dingen in ihrem Alltag gerade nicht haben. Da nehmen alle gerne in Kauf, dass ein Cricketfeld eigentlich oval und die Halle nur ein notwendiger Kompromiss ist.

Die Blue Tigers haben schon 33 Mitglieder

Wie beim Fußball braucht man elf Spieler für eine Mannschaft. Die Blue Tigers bestehen aus 33 Mitgliedern – Tendenz weiter steigend. Und sie sind bereits die zweite Cricketmannschaft, die der über 100 Jahre alte DJK Altendorf 09 nun hat. Seit Januar gibt es die Tigers. Die Mannschaft der Mavericks ist älter. „Sie spielen heute in Düsseldorf“, sagt Mantle. Die Entwicklung ging so rasant vonstatten, dass auf der Homepage des Hauptvereins Cricket zwar als jüngste Sparte aufgeführt ist, konkrete Inhalte aber noch fehlen. Aber der Slogan „Ein Weltsport erobert auch Deutschland“ ist dort schon mal zu lesen. „Wer bei uns Mitglied ist, gehört zur Familie“, sagt der Vereinsvorsitzende Michael Stottropp. Das ist ein Angebot.

Die Situation in Essen illustriert das deutsche Cricketwunder sehr anschaulich. Die Zahl der Spieler in Deutschland ist in den letzten Jahren um 20 Prozent gestiegen, berichtet Mantle. Gab es 2011 noch 70 Vereine, sind es heute 98. Und es gibt 205 neu angemeldete Mannschaften. Das hat wiederum mit dem Anstieg der Flüchtlingszahlen aus den Cricket spielenden Ländern zu tun. Sie kommen aus Pakistan, Indien, Sri Lanka und eben Afghanistan. Der deutsche Cricketverband ist mit etwa 4000 Mitgliedern der größte Verband in Europa nach England.

Der Boom tut auch den Vereinen gut. „Wir wollen, dass Cricket wächst und dass sich der Sport auch in Deutschland etabliert“, sagt Mantle. Die Chancen dafür stehen gut. „Seit sechs Monaten merken wir, dass die Zahlen explodieren.“ Zwei bis drei Anfragen von Vereinen und Flüchtlingsheimen bekommt er täglich. „Für viele Vereine ist das eine Chance, sich mit einer exotischen Sportart zu profilieren“, sagt Mantle. Eine echte Win-win-Situation. „Früher hatte ich niemanden, der mit mir Cricket spielt“, sagt er. Er weiß, wie schwierig es für Neulinge ist, die komplizierten Regeln des baseballähnlichen Sports bis ins Letzte zu verstehen. Sein Traum: dass Deutsche und Neubürger zusammen spielen.

Cricketvereine aus dem In- und Ausland unterstützen die Flüchtlinge

Um dieses Ziel zu erreichen, hat Mantle im vergangenen halben Jahr landauf, landab seine Cricket-Starter-Sets per Post verschickt. Bei Vereinen im In- und Ausland ist er Klinkenputzen gegangen und hat ausrangierte Schläger, Polster, Trikots und Schuhe zusammengetragen. Manchmal gab es auch neue Sachen. Zum Hamburger SV, zu den Fußballern von Wackerburghausen oder zu den Reinickendorfer Füchsen nach Berlin hat er Pakete geschickt. 400 sind es insgesamt geworden. In Delmenhorst, Bremen, Wiesbaden, Pfaffenhofen, Stuttgart, Ludwigsburg und an vielen anderen Orten spielen sie jetzt mit diesen Utensilien. Und seit ein paar Tagen kann Mantle endlich auch wieder in seiner Garage parken. Dort hatte er die Spenden gelagert.

Drei Stunden trainiert er mit den Jungs der Blue Tigers. Das ist kurz. Cricketspiele können sich über mehrere Tage ziehen und dann auch noch unentschieden ausgehen. Groß und stämmig und mit einem einladendem Lächeln steht Mantle in der Turnhalle. Er trägt das rote Trikot der deutschen Cricket-Nationalmannschaft zur schwarzen Trainingshose. Durch seine Kinder, die beim DJK Essen-Altendorf 09 Handball spielen, ist er zum Verein – und dann ist eins zum anderen gekommen. Denn der gebürtige Brite aus Shrewsbury weiß einfach besser als jeder andere, wie sich echte Cricket-Leidenschaft anfühlt. Er weiß, wie es ist, wenn es einen auf das Spielfeld zieht – und keines da ist. Und er weiß, wie es ist, wenn überhaupt niemand auf die Idee kommt, dass Cricket ein Sport ist, der so attraktiv wie Fußball sein kann.

In Afghanistan und Pakistan ist Cricket Volkssport

Und so hat Mantle vor gut fünf Jahren nicht lange nachdenken müssen, als er einen Anruf aus einem Flüchtlingsheim bekam. Ein umsichtiger Jugendbetreuer hatte sich Gedanken gemacht, als er immer wieder den Raum aufschließen musste, in dem der Computer mit Internetzugang stand. Es war Cricket-WM und seine jugendlichen Schützlinge hatten nur einen Wunsch: sie wollten zu jeder Tages- und Nachtzeit verfolgen, wie die Mannschaften um den Meisterschaftstitel kämpften. Denn zu Hause in Afghanistan und Pakistan hatten sie alle selbst Cricket gespielt.

„Cricket ist wie eine zweite Religion“, sagt Avif Jamal und wundert sich noch immer ein wenig darüber, die Sportart überhaupt erklären zu müssen. Cricket sei einfach spannend, setze Teamwork und Konzentration voraus, und der ganze Körper sei in Bewegung. Avif war einer von denen, die damals im Jugendheim nicht lockergelassen haben. Heute hält er die Blue Tigers zusammen, bringt Neuankömmlinge mit, hat in der deutschen Nationalmannschaft gespielt, hat Auszeichnungen für sein Engagement bekommen und spricht perfekt Deutsch. Bald wird er das Abitur in der Tasche haben. Nur mit seinem jüngeren Bruder Kilal ist Avif 2010 aus Afghanistan nach Deutschland gekommen. Schüchtern war er. „Avif hat durch den Sport enorm an Selbstbewusstsein gewonnen“, sagt Mantle. Die beiden sind längst Freunde. Sie verstehen sich fast ohne Worte. Cricket ist ihre gemeinsame Sprache.

„Cricket ist mehr als Sport, das ist Lebensart“

Das könnte daran liegen, dass beide, wenn auch in unterschiedlichen Ländern, die gleiche Cricket-Sozialisation erfahren haben. Mantle stand mit sieben Jahren zuerst auf dem Spielfeld. Sein Vater war schon cricketbesessen, die Familie wohnte nur einen Steinwurf vom Platz. Avif kommt aus Kunar und ist Paschtune, hat lange Zeit im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet gelebt. Dort ist Cricket ein Jedermann-Sport. So wie kleine Jungs in Deutschland auf der Straße kicken, improvisieren die kleinen Afghanen mit einem Tennisball auf den Straßen – egal wie uneben der Untergrund ist. Sogar die Teddybären, die man kleinen Kindern schenkt, haben einen Schläger in der Hand.

„Cricket ist viel mehr als ein Sport“, sagt Mantle, „Cricket, das ist Lebensart“ und ein echter Sommersport. Zu Hause in England waren die gegnerischen Mannschaften die beliebtesten, welche in den Spielpausen die beste Teezeit mit Gurkensandwich und Kuchen bereitet haben. Kulinarisch geht es aber auch anders: „Bei uns kochen die Jungs Curry bei langen Spielen“, sagt Mantle. Im Verein freut man sich auch auf diese Erweiterung des Angebots. Der Sommer kann kommen.

Eine Sorge treibt Mantle allerdings sehr um: Was passiert mit dem Essener Cricketwunder, wenn seine Jungs in andere Flüchtlingsunterkünfte verlegt werden und die Halle für sie nicht mehr so einfach erreichbar ist? Und an Abschiebungen mag er schon gar nicht denken.