Besonders anlässlich der Leichtathletik-WM vor 20 Jahren blickte die Sportwelt nach Stuttgart. Vom Ruf als Sporthauptstadt ist nicht mehr viel übrig geblieben, kritisiert der Funktionär Helmut Digel – und schiebt den Schwarzen Peter der Politik zu.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Stuttgart - Im August 1993 ist die Landeshauptstadt die Bühne eines Sommermärchens gewesen. Im damals neuen Daimlerstadion hat die Leichtathletik-WM vor 20 Jahren den Ruf der Stadt als Sporthauptstadt geprägt. Der Funktionär Helmut Digel spricht über den Ist-Zustand und kritisiert fehlendes Interesse der Politik am Spitzensport.

 

Am Vortag hat es gehagelt. Helmut Digel hat Glück gehabt, er hat eine Garage. Nun sitzt der emeritierte Professor für Sportwissenschaft, Spitzenfunktionär und langjährige Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes in einer Pizzeria in Tübingen und spricht über die WM 1993 in Stuttgart und die Entwicklung des Spitzensports. Es hat ihm nicht die Laune verhagelt und nicht den Appetit. Aber bei Pizza und Apfelsaftschorle diagnostiziert er einen schleichenden Niedergang der einstigen Sporthauptstadt.

Herr Digel, an was denken Sie bei den Worten „Stuttgart 1993“?
An die schönste Leichtathletik-WM, die ich je erlebt habe. Eine vergleichbare Atmosphäre hat es danach nie wieder gegeben. Die Stadt und das Umland haben damals die WM gelebt. Und sie ist bis heute präsent. Erst heute morgen bin ich beim Zahnarzt auf 1993 angesprochen worden.
Was machte Stuttgart besonders?
Neben dem Publikum war es die sehr gute Organisation. Und es gab Manfred Rommel, den charismatischen OB, der in der Welt des Sports großen Eindruck hinterlassen hat. Alle Funktionäre, die ich kenne, sind bis heute voll des Lobes. Rommels Witz, seine Ausstrahlung, auch sein kritischer Geist wurden von allen geschätzt. Stuttgart war in dieser Zeit eine ganz große Nummer in der Welt des Sports.
Stuttgart galt als Sporthauptstadt.
Das lag auch an Personen wie dem damaligen Sportbürgermeister Gerhard Lang, der bundesweit wahrgenommen wurde. Dazu hatte die Stadt eine große Tradition mit Handballvereinen wie dem SV Möhringen, vielen bekannten Leichtathleten und Boxern. Der Titel „Sporthauptstadt“ war in dieser Zeit allerdings auch nicht so umkämpft. Heute versucht praktisch jede größere Stadt, sich auf dem Markt zu positionieren und an Image zu gewinnen.
An was denken Sie dann heute bei den Worten „Stuttgart 2013“?
An eine Kommune, die einst weltweit als Sportstadt wahrgenommen wurde und dann den Anschluss verpasst hat. Das liegt natürlich auch daran, dass es immer schwieriger wird, bedeutende Sportereignisse an eine Stadt dieser Größe zu binden. Die Sportverbände stellen mittlerweile ja teils abenteuerliche Ansprüche an die Ausrichter. Stuttgart ist so von der Landkarte des Weltsports leider fast verschwunden.
Ist Stuttgart Sportprovinz?
Sehr zugespitzt vielleicht. Wobei ich das nicht so hart ausdrücken möchte. Nur weil man nicht mehr regelmäßig sportliche Großereignisse ausrichtet, ist man nicht gleich provinziell. Und das muss ja auch nicht so bleiben. Ich könnte mir vorstellen, dass Stuttgart zum Beispiel mal die Olympischen Jugendspiele ausrichtet. Die Stadt erfüllt alle Voraussetzungen und wäre dafür perfekt. Und für die Hallenereignisse ist Stuttgart ja ohnehin sehr gut gerüstet.
Hat sich nach Ihrer Wahrnehmung die Position der Stadt zum Sport seit 1993 verändert?
Stuttgart setzt seit einiger Zeit eher auf den aktiven Sport, also auf den Breitensport, was nicht verwerflich ist. Im Gegenteil. Aber es gibt einen Mangel im Mannschaftssport. Es fehlt neben dem VfB Stuttgart ein Team auf Spitzenniveau.
Es gibt die Volleyballfrauen des MTV Allianz Stuttgart.
Es gibt immer wieder solche Initiativen, aber das hängt auf Gedeih und Verderb von Einzelpersonen ab. Ein grundlegendes Konzept vonseiten der Stadt erkenne ich nicht. Es ist in Stuttgart versäumt worden, strukturelle Reformen durchzuführen, um eine zweite Mannschaft mit Strahlkraft zu entwickeln, die um Titel spielt. Das kann man nicht nur den Vereinen anlasten, das ist auch ein Versäumnis von Politik und Wirtschaft.