Die Städte gehören nicht allein den Gutsituierten: In der Hauptstadt führen daher Obdachlose Touristen durch ihren Kiez und zeigen dabei Altbekanntes aus ungewohnter Sicht.

Berlin - Wer bettelt, spürt hautnah die Berührungsängste zwischen Bürgern und Bedürftigen. Carsten Voss weiß, wovon er spricht. Wenn er die Hand ausstreckt, nimmt er wenig ein, hält er einen Becher hin, bekommt er mehr. Bis vor kurzem war er selbst wohnungslos. Heute vermittelt Voss als Stadtführer, wie es sich anfühlt, auf den Straßen Berlins zu leben – und kaum wahrgenommen zu werden von den vielen, denen es besser geht. Die Tour ist gut besucht. Überwiegend einheimische Teilnehmer folgen Voss raschen Schritts, um nichts zu verpassen.

 

Die Städte gehören nicht allein den Gutsituierten. Immer mehr Menschen mit und ohne Dach über dem Kopf schließen sich zu Initiativen wie „Querstadtein“ in Berlin zusammen, um Mitbürgern und Touristen die wenig beachteten Seiten der Metropolen Europas nahezubringen. Stadtführungen „von unten“ gibt es auch in Hamburg, Stuttgart oder München. In London kann man sich einer „Sock Mob“-Tour anschließen, Prag kann aus der Perspektive von Wohnungslosen entdeckt werden, ein ganz anderer Blick auf Kopenhagen lässt sich beim „Poverty Walk“ gewinnen.

Keine verlässliche Statistik zu Wohnungslosigkeit

Carsten Voss beginnt als Stadtführer gerade wieder Fuß zu fassen. Als er in der Modebranche arbeitete, litt er unter Burnout und Depressionen. Er verlor Job und Wohnung. „Dann habe ich auch noch alle Kontakte abgebrochen“, erzählt er. Voss lebte von Erspartem und kam in einer Gartenlaube unter. Im Winter wurde dem 54-Jährigen klar, das er das auf Dauer nicht durchhält. Heute bezieht er Hartz IV, hat wieder eine Wohnung und arbeitet ehrenamtlich in dem Obdachlosentreff, der ihm Zuflucht bot. Über ihn lernte er „Querstadtein“ kennen. Die Arbeit für die Initiative hilft ihm, mit dem Leben wieder klarzukommen.

Die Sozialwissenschaftlerin Susanne Gerull ist „froh, dass sich langsam auch in Deutschland etwas tut und solche Initiativen das Problem der Wohnungs- und Obdachlosigkeit sichtbar machen“. Wohnungslosigkeit gelte als Nischenthema, bedauert sie. In Deutschland gebe es nicht einmal eine verlässliche Statistik. „Die Politik macht da relativ dicht“, so Gerull.