Kamele, die durch die Stadt schlendern, ein Rind, das einen Autounfall verursacht, ein Känguru, das über Bahngleise hüpft: Mit seinen ungeplanten Tiernummern erregt der traditionsreiche Familienbetrieb Circus Kaiser mehr Aufsehen als mit seinen geprobten Aufführungen.

Region: Verena Mayer (ena)

Blaustein - Sehr geehrte Damen und Herren! Herzlich willkommen im Circus Kaiser! Freuen Sie sich auf unsere exotischen Tiere. Lassen Sie sich entführen von unseren mutigen Artisten. Vergessen Sie den grauen Alltag, tauchen Sie ein in die bunte Zirkuswelt!“ Der Showdirektor Artur Kaiser, der im Laufe der Veranstaltung auch Akrobat und Dompteur sein wird, steht in einem blauen Frack mit goldenen Epauletten in der mit Sägespänen bestreuten Manege und strahlt. Knapp 40 Zuschauer sitzen in dem Zelt, das Raum für 900 bietet. Der Direktor ist froh. Fast 40 Zuschauer! Das sind ungefähr 40 mehr, als er erwartet hat.

 

Draußen strahlt der Himmel blauer als der Direktorenfrack. Und die Sonne glänzt güldener als die Epauletten auf den Schultern. Bestes Freibadwetter. Schlechtestes Zirkuswetter. Man kann sich auf der hölzernen Bank unter dem blauroten Zelthimmel sitzend schon die Frage stellen, wer hier wen entführt aus dem grauen Alltag.

Das riesige Zelt steht auf einer Wiese am Ortsausgang von Blaustein. 1300 Euro Miete ist dem Circus Kaiser der Standort für sein viertägiges Gastspiel wert. Es ist in den Augen des formalen Zirkusdirektors André Kaiser ein 1-a-Standort. Von der viel befahrenen B 28 muss das Zelt jedem Autofahrer ins Auge springen. Und die Kamele und Lamas, die neben dem Zelt rumstehen, ziehen die Blicke der Passagiere in den vorbeibummelnden Zügen gewiss auch automatisch an. Der Circus Kaiser ist auch bekannt als „Der mit den vielen Tieren!“. Ein ungarisches Steppenrind gehört zu ihm, ein Shetty, ein Wasserbüffel, ein Bison, zwei Zwergzebus, ein Yak, ein Watussirind, vier Esel, acht Miniponys, sieben Lamas, acht Pferde, vier Ziegen, vier Schafe, fünf Antilopen, vier Kängurus, zwei Sträuße, neun Hunde, zwei Dromedare, neun Kamele, zwei Gänse und drei Hühner. Macht 79 Tiere. Wobei die drei Hühner nur als Vorsorgeeinheit zur Truppe gehören: Geht es ihnen schlecht, stimmt auch mit den Gänsen Bruce und Lee was nicht, die als „weiße Schnabelgiraffen“ auftreten.

Kängurus hüpfen über die Felder von Harthausen

In den vergangenen Monaten ist der Circus Kaiser eher als der Zirkus bekannt geworden, dem die vielen Tiere ausbüxen. Bei seinem Aufenthalt in Weil der Stadt im März verlassen zehn Kamele und ein Schaf ihre Gehege. In Holzgerlingen spaziert im April ein junger Bulle davon. Im Mai hüpfen vier Kängurus über die Felder von Harthausen, im Juni schlendert in Süßen ein Rind über die Straße und verursacht einen Autounfall. Und in Blaustein macht sich an diesem frühen Julimorgen ein Känguru auf den Weg nach Ulm. Weil es über die Gleise wandert, werden alle Züge angehalten.

Wie bei jeder dieser ungeplanten Tiernummern gibt es auch hier zwei Versionen. Der Zirkuschef André Kaiser sagt, das Känguru sei gar nicht abgehauen gewesen. Wahrscheinlich habe jemand das Tier beim Grasen gesehen, nicht aber den Zaun drum herum. Den Bahnverkehr habe man wohl prophylaktisch angehalten. Die Polizei hingegen hat bei ihrem Einsatz nicht nur das Känguru „auf dem Gleiskörper in Richtung Ulm“ gesichtet, sondern auch festgestellt, dass sein Gehege offen stand.

Am Mittag kommen zwei Journalistinnen vom Lokalradio auf die große Wiese am Ortsausgang. Nicht wegen der Premiere. Wegen des Kängurus. Womöglich ist es überhaupt nicht relevant, ob André Kaiser versucht, mit den Tatsachen zu jonglieren. Die Probleme sind so oder so da.

André Kaisers nackter Oberkörper glänzt, seine lockigen Haare sind nass. Es ist noch nicht mal Mittag, und das Thermometer zeigt schon seit Stunden mehr als 30 Grad an. Der Zirkuschef schleppt einen Sack voller Brotlaibe und Brötchen an. Er schüttet das Futter in die Gehege. Dann eilt André Kaiser ins Zelt zu seinem Bruder Artur, wo es noch heißer ist. Die Scheinwerfer müssen installiert und die Boxen für die Musikanlage angeschlossen werden. Das Dach ist auch noch nicht so straff, wie es sein soll. Und ist die Tribüne stabil? Irgendwann sollten die Sägespäne in der Manege verteilt, die Pferde gestriegelt und die Kamele herausgeputzt werden. Die Zeit bis zur Aufführung um 16 Uhr läuft ab.

Eine große Zirkus-Familie

Der Polizeieinsatz am Morgen hat den strengen Tagesplan durcheinandergebracht. Die Fahrt ins 30 Kilometer entfernte Laupheim fällt deshalb aus. Dort wollte der Zirkus seinen nächsten Auftritt bewerben. Plakate aufhängen, Flyer verteilen. Wenn es besonders gut gelaufen wäre, hätten die Kaisers bei dieser Gelegenheit noch einen Hof entdeckt, wo sie Heu für die Tiere bekommen. Und vielleicht einen Markt, der Grünzeug übrig hat. Auch für die Tiere.

André Kaiser schüttet Limonade in sich hinein und hetzt von einem Arbeitseinsatz zum nächsten. Zum Essen ist er heute noch nicht gekommen. Bis vor wenigen Wochen war er der Juniorchef des Circus Kaiser. Außer seinem Bruder Artur hat er sieben weitere Geschwister. Rosalinde, Konstanze, Edmund, Isabell, Markus, Alex und Sonja. Sie sind alle mit eigenen Zirkussen unterwegs, bis auf eine Schwester. Sie ist unter die Schausteller gegangen. Den Circus Kaiser gibt es, eigenen Angaben zufolge, seit 270 Jahren. André Kaiser ist Teil der achten Generation. Vorigen Dezember ist seine Mutter gestorben. Sie war 63 und krebskrank. Vor wenigen Wochen ist auch der Vater gestorben. Mit 69 und einer kaputten Lunge. Trotzdem hat er bis zuletzt mitgeschafft. Jetzt hängt der Circus Kaiser mit seiner langen Geschichte, seinen rund 80 Tieren und den plus/minus zehn Menschen, an dem 29 Jahre alten André Kaiser und seinem 25-jährigen Bruder Artur.

Mindestens 1000 Euro müssen an einem Spieltag in die Kasse kommen, sagt André Kaiser. Damit wenigstens die Unkosten für den Betrieb gedeckt sind. Das Futter für die vielen Tiere, das Benzin für die drei Zugmaschinen, die die   24 Stall-, Ausrüstungs- und Wohnwagen peu à peu von Spielstätte zu Spielstätte ziehen, die Versicherungen, die Steuern. Plus die Werbung, plus die Miete. Bedenkt man, dass auch Artisten von irgendwas leben müssen, weiß man, dass 1000 Euro ein großzügiges Minimum sind. Und rechnet man die 1800 Euro hinzu, die die Polizei für ihren Einsatz wegen der umtriebigen Kamele in Weil der Stadt in Rechnung gestellt hat, wundert man sich, ob unter den exotischen Tieren des Zirkus nicht auch ein Goldesel ist.

Zehn Euro kostet eine Eintrittskarte für die Abendvorstellung um 19 Uhr, mittags um vier sind es fünf Euro. Mit den knapp 40 Premierengästen in Blaustein kommen also knapp 200 Euro in die Kasse. Früher wäre man für so ein Häufchen Zuschauer gar nicht aufgetreten. Aber heutzutage sagt der Circus Kaiser eine Vorstellung eigentlich nur dann ab, wenn er sonst draufzahlen müsste. So wie im Februar 2013 in Schorndorf. Allein das Beheizen des Zeltes hätte mehr gekostet, als die Tickets der wenigen Zuschauer gebracht hätten.

Candy-Lipsticks, Puffreis und Gummidrops

Aus dem Kiosk auf Rädern dringt ein Knallen. Hinter der gläsernen Theke häufen sich Tüten mit Chips und Flips, Nusswaffeln und Puffreis. Dahinter erhebt sich in bauchfreiem Top und knapper Hose Tina Quaiser. Sie macht Popcorn. Ganz frisch. Für die Besucher, die hoffentlich bald auf das Gelände strömen. Riecht auf jeden Fall sehr fein. Und sie drapiert Erdnusspäckchen, Candy-Lipsticks, Gummidrops und Puffreis auf dem Tresen. Und palettenweise Wasser, Cola und Fanta im Kühlschrank, der verdächtig piepst. Ob die Getränke rechtzeitig schön kalt werden?

Tina Quaiser, 27, ist die Partnerin von André Kaiser. Früher betrieb sie mit ihren zwei Schwestern und ihrer Mutter einen eigenen Zirkus, den Circus Fantasy. Als sich die drei Zirkusmädchen in drei Zirkusbuben verliebten, zogen alle vier Damen unter eine neue Kuppel. Tina Quaiser unter die des Circus Kaiser. Sie sagt, sie kann sich nichts anderes vorstellen, als Zirkus zu machen. Die Arbeit – so abwechslungsreich. Die Tiere – so beeindruckend. Die Menschen – so vertraut. Das Leben – so frei. So hat sie das Zirkusleben zumindest kennengelernt. Aber ist es noch so?

Das Gastspiel in Filderstadt-Harthausen im Mai musste die Kaisertruppe vorzeitig beenden. Wäre sie nicht weitergezogen, hätte die Stadt das Gelände zwangsräumen lassen, weil das Zelt und die Wagen in einem besonders empfindlichen Landschaftsschutzgebiet standen. Kaisers wehrten sich dagegen, so heftig sie konnten, doch es half nichts. Und das, wo es ohnehin immer schwieriger wird, Spielflächen zu finden.

In Möhringen hat der Zirkus im Jahr zuvor 1000 Miete Euro für ein Grundstück bezahlt, das dem Vermieter gar nicht gehörte. Die Eigentümerin war die Stadt, und die war stinksauer, weil sie die malträtierte Fläche nach dem Abzug der Kaisers auch noch auf eigene Kosten wieder herrichten musste. Und dann der ganze andere Ärger. Mit den Tierschützern, die regelmäßig Plakate abreißen oder Zettel drüberkleben, auf denen steht „Abgesagt wegen Tierquälerei“. Und mit den Unbekannten, die auch mal ein Starkstromkabel durchtrennen, wie im Februar 2013 in Winnenden. Oder die einen Stall öffnen und so Tiere auf die Straße setzen, wie im März 2013 in Freiberg. Und wenn nun, nachdem im Odenwald ein ausgerissener Zirkuselefant einen Spaziergänger getötet hat, vielleicht die Debatte über ein Wildtierverbot in Zirkussen wieder aufflammt – als wildtierhaltender Zirkusbetreiber denkt man lieber nicht daran.

Tränen der Sorgen

Manchmal kann Tina Quaiser nicht anders, als vor Sorgen zu weinen. Dann tröstet sie André. „Es geht immer weiter!“, sagt er. „Wir schaffen das!“ Wenn dann die Ränge im Zelt mal wieder besser besetzt sind und die Kaisers ein längeres Engagement bei einem Weihnachtszirkus bekommen oder zu einem Festival eingeladen werden, dann sieht die Welt auch wirklich wieder bunter aus. Womöglich haben ja auch die Nachrichten von den ausbüxenden Tieren bald ein Ende. Nun, da André Kaiser die zierlichen Elektrozäune nach und nach gegen massive Eisengatter tauscht, die ihn, wie er sagt, 45 000 Euro kosten.

Im Zelt, wo der Showdirektor Artur Kaiser den grauen Alltag vertreibt, steht die Luft. André Kaiser dirigiert seine Pferde zu Walzerklängen, wirft Messer auf eine Wand und jongliert in vier Meter Höhe mit Keulen. Artur Kaiser lässt Kamele, Büffel und Alpakas auf Podesten posieren, reckt seinen handstehenden Sohn Luciano in die Höhe und balanciert in seinen Händen die kopfstehende Tochter Loredana. Die artistische Luftnummer seiner Frau Sandy fällt flach. Sie ist schwanger und soll das Baby schonen. Tina Quaiser lotst ihre Hunde über Hürden und durch große Plastikringe und tanzt mit 40 Reifen Hula-Hoop.

Normalerweise dauert eine Aufführung zwei Stunden. Heute sind es nur eineinhalb. Wegen der Hitze. „Danke schön und auf ein baldiges Wiedersehen im Circus Kaiser“ schallt es um kurz nach halb sechs aus den Boxen. Die Darsteller verabschieden sich. Ganz vorne winken der fünfjährige Luciano und die vierjährige Loredana. Oder wie sie der Showdirektor nennt: die neunte Generation Kaiser.