Michael Wohlleben aus Künzelsau im hohenlohischen Flachland gilt als einer der besten Extremkletterer der Welt. Folge sechs der Serie „Stille Helden“.

Sport: Gerhard Pfisterer (ggp)

Künzelsau - So muss sich das auf dem Mond anfühlen – oder zumindest so ähnlich. Auch dort wird ja eine kurze Strecke für einen Menschen zu einem weiten Weg. Bei den Astronauten sieht das wegen der Schwerelosigkeit noch ganz beschwingt aus, wie auf einem gigantischen Trampolin. Bei Michael Wohlleben dagegen wirkt jeder Schritt vorwärts irgendwann genauso anstrengend wie er tatsächlich ist. Fast in Zeitlupengeschwindigkeit ist er dem Mond dafür allerdings schon näher gekommen als die meisten Erdbewohner das je tun werden – ein paar Kilometer näher. Michael Wohlleben ist Extrembergsteiger.

 

Der Künzelsauer gilt als der beste Deutsche seines Fachs unter 25 Jahren. Auch als Kletterer ist er richtig gut unterwegs. Seit zwei Jahren lebt er in Brackenheim im Zabergäu. Der Blick aus seiner Maisonettewohnung geht hinab ins Grüne, vor dem Haus fließt ein kleiner Bach. Auch die Einrichtung passt zu einem Kerl wie ihm: nur das Nötigste, kein Schnickschnack. Er ist ein Naturbursche – „aber jetzt auch kein Ökoheini, der spirituell angehaucht ist“, sagt der 23-Jährige. Das Keyboard gehört seiner Freundin.

An der Wand hängen zwei Schwarz-Weiß-Bilder: von der Eigernordwand und der Nordwand der Grandes Jorasses im Montblanc-Massiv. An der Wendeltreppe in die obere Etage hat er einen „Beastmaker“ angebracht, ein Gerät zur Verbesserung der Fingerkraft. Vor Expeditionen gehört auch ein Höhenluftgenerator zum Inventar, Michael Wohlleben strampelt sich dann maskiert im Wohnzimmer bis auf 6000 Meter hoch.

Der 3970 Meter hohe Eiger ist sein Lieblingsberg. Mit 17 hat er ihn erstmals erklommen, wenig später brach er die Schule zu Gunsten seiner Profikarriere ab. Seine Eltern waren freilich nicht sonderlich begeistert, sie drehten den Geldhahn zu. Michael Wohlleben zog aus – und sein Ding durch: „Manchmal musst du was riskieren, sonst wirst du auch nichts.“ Im Februar 2011 erstürmte er die legendäre Eigernordwand mit Fritz Miller aus Reutlingen in fünf Stunden und zehn Minuten – die drittschnellste Zeit einer Seilschaft überhaupt und die beste Zeit eines deutschen Teams. „Das steht auf meiner Liste schon ganz oben mit zwei, drei anderen Sachen“, sagt Wohlleben.

90 Meter bis zum Gipfel

Nicht immer schafft er es auf den Gipfel. 2012 musste er in den peruanischen Anden die Erstbegehung des 6094 Meter hohen Jirishanca über den Ostpfeiler abbrechen, 90 Meter fehlten nur. Die Schneeverhältnisse waren zu schlecht, ein sicherer Aufstieg war nicht mehr möglich. „Das waren dicke Schneepakete ohne Halt durch feuchte Luftmassen vom Amazonas, das gibt es in den Alpen so nicht.“

Die Entscheidung zu dem Abbruch war eigentlich schon lange zuvor gefallen – zu Hause, auf der Wohnzimmercouch. Dort spielt Michael Wohlleben immer möglichst alle Szenarien durch, die ihn erwarten könnten. Dort trifft er mit klarem Kopf überlebenswichtige Entscheidungen für Extremsituationen. Risikomanagement auf dem Sofa. „Auf 7500 Metern ist das eine ganz andere Hausnummer, was das Denken angeht“, sagt er. „Du musst kapieren, wer du bist. Wenn du das nicht machst, läufst du weiter und stirbst.“

Michael Wohlleben kehrte in diesem Frühjahr auf dem Dhaulagiri (8167 Meter), dem siebthöchsten Berg der Welt im Himalaja-Gebirge, auf 7500 Metern um. Er war alleine und ohne künstlichen Sauerstoff unterwegs. Fixseile zur Sicherung waren keine mehr vorhanden: „In dieser Höhe beginnen die Schwierigkeiten erst. Du wirst träge im Denken – so, als ob du zwei, drei Nächte nicht geschlafen hättest. In diesem Zustand wollte ich den Aufstieg ohne Fixseile nicht fortsetzen.“ Juanjo Garra, mit dem er sich im Basislager angefreundet hatte, ging weiter – und starb. Er hatte sich bei einem Sturz auf 8000 Meter einen Fuß gebrochen. Bergsteiger sprechen von der Todeszone, die Helikopterrettung kam für den 49-jährigen Spanier zu spät.

Michael Wohlleben schweigt. Die surfermäßige Lockerheit, die ihn sonst auszeichnet, kommt ihm plötzlich abhanden. Er atmet schwerer, die Miene wirkt betreten. Etwas, das er verdrängt hat, dringt offenbar wieder durch. „Das kommt vor in den Bergen, dass jemand stirbt, das ist leider so“, sagt er schließlich. „Ohne Fixseile weiterzugehen: Er wusste, was er da macht. Ich habe das eigentlich aus meinem System gestrichen.“


Tödliche Unfälle gehören zum Extrembergsteigen, alleine während seiner Dhaulagiri-Expedition von Mitte April bis Anfang Juni verunglückten drei Frauen und Männer. Überall lauern versteckte Gefahren: „Du brauchst die Angst auch, damit nichts passiert. Wenn du dich in die Wand begibst, kann alles passieren. Es kann sein, dass du nicht zurückkommst – egal, wie gut du bist.“ Eine Unachtsamkeit, und es ist geschehen. In den Dolomiten ist er einmal in einer Eisrinne 300 Meter abgerutscht, ehe ihn sein 70-Liter-Rucksack an einem Baum bremste. „Da kannst du dir auch mal das Genick brechen“, sagt Michael Wohlleben. Die Gefahr klettert immer mit. „Du lernst, dass das dazugehört, wenn du ins Bergsteigen reinwächst.“

Schon als Kleinkind war er in der Kraxe seines Vaters Klaus bei Bergtouren dabei. Mit acht Jahren trat er in die Künzelsauer Kletterjugendgruppe des Deutschen Alpenvereins (DAV) ein. Fortan ging es buchstäblich steil bergauf. Mit zehn erklomm Michael Wohlleben erstmals die Zugspitze, Deutschlands höchsten Gipfel. Mit 14 bestieg er erstmal den Montblanc, Europas höchsten Berg (4810 Meter). Mit 16 schaffte er es in den DAV-Expeditionskader, sozusagen das Jugendnationalteam im Bergsteigen. Mit 17 unternahm er seine erste Expedition an den Spantik (7027 Meter) in Pakistan, ein Lawinenunglück verhinderte den Gipfelsturm.

Mit so einem Scheitern kann er gut leben. „Man gewöhnt sich daran, du musst eine hohe Frustrationstoleranz haben“, sagt er. „Die Frage ist immer: Warum drehst du um? Weil du zu schwach warst, oder weil es zu gefährlich war? Ich ärgere mich nur, wenn ich zu schwach war.“ Deshalb bereitet er sich akribisch vor. 20 bis 35 Stunden Training die Woche stehen auf seinem Plan. Mit Joggen, Schwimmen und Radfahren stärkt er seine Ausdauer.

Training in Zuffenhausen

Dazu kommt Klettertraining in der Fränkischen Schweiz – oder in der neuen Climbmax-Halle in Zuffenhausen. Michael Wohlleben greift in sein Säckchen mit Magnesia, schaut sich eine Route aus und geht sie an. Griff für Griff, Tritt für Tritt. Links, rechts, links, rechts. Gewicht draufschieben, Körperschwerpunkt verlagern, umgreifen, nachdrücken. Es sieht bei ihm spielerisch leicht aus. Seine kurzen Fingerglieder sind ein genetischer Vorteil. „Der Winkel ist viel besser“, sagt der Mann mit den fast bubihaft sanften Gesichtszügen und deutet auf seine schwieligen Hornhauthände. „Ich habe mein ganzes Leben schon Fingerstrom.“

Michael Wohlleben ist 1,84 Meter groß und 71 Kilogramm leicht. Den Dhaulagiri ging er mit 76 Kilogramm an und kehrte mit 68 zurück. Extrembergsteigen zehrt extrem aus. „Wenn du zehn Stunden am Stück immer ein, zwei Schritte machst, ist das ganz normal – die Muskulatur wird halt von der Höhe aufgefressen“, sagt er. „Du fühlst dich nonstop übersäuert. Aber du musst weitergehen, es hilft ja nix.“

Er gleicht dabei einem Marathonläufer auf den letzten fünf Kilometern – nur dass dieser Zustand bei ihm über mehrere Stunden hinweg anhält. Zur Vorbereitung auf Expeditionen joggt er deshalb auch mit bepacktem Rucksack. „Das ist extrem gut für den Kopf, weil es einfach wehtut – Extrembergsteigen tut extrem weh.“ Es ist ein Kampf gegen sich selbst, ein Kampf gegen die Einsamkeit und Stille der Bergwelt: „Es geht nur noch um das eigene Fortkommen, ums Überleben.“


Michael Wohlleben ist ein Grenzgänger. Oberhalb der Schneegrenze tastet er sich immer weiter an seine Schmerzgrenze heran. Er ist ein Abenteurer der Moderne. Als ein Reinhold Messner des 21. Jahrhunderts sieht er sich allerdings nicht. Es ist überhaupt nicht sein Ziel, alle 14 Achttausender der Welt zu besteigen. „Normalbegehungen auf 8000 Meter interessieren mich nicht. Ich bin viel mehr auf schwieriges Gelände ab 7000 Meter fixiert.“

Das hohe Menschenaufkommen im Himalaja nervt ihn. Die gängigen Routen, etwa am Mount Everest, sind ihm viel zu überlaufen. Männer wie er, die es ohne bezahlte Hilfe auf den Gipfel schaffen, sind auch nicht so willkommen. „Das Problem ist, dass es da zu viele Touristen gibt und zu viele Sherpas. Wo zu viele Menschen sind, sind immer auch Idioten dabei, und es häufen sich die Probleme“, sagt Michael Wohlleben. Die Stimmung ist schlecht, es wird gepöbelt – etwa im Streit um Zeltplätze. „Wenn du in ein Fußballstadion, in das 50 000 reingehen, 100 000 reinlässt, gibt es auch Terror, und der Umgang miteinander wird blöd.“

Im April 2011 hat er die Ausbildung als staatlich geprüfter Berg- und Skiführer abgeschlossen. Seine Touren sind eine Geldquelle. Dazu kommen Einnahmen von Sponsoren und Vorträge über seine Expeditionen, gespickt mit spektakulären Bildern. Michael Wohlleben ist immer bereit für die nächste Tour, im Kofferraum seines VW Golf liegen Schlafsack, Helm, Bergstiefel, Steigeisen, Pickel, Seile und Karabiner. Neulich erst hat er als Führer ein Pärchen auf den Montblanc geleitet. Mehr als ein Dutzend Male war er schon am höchsten Punkt Europas, eine Herausforderung ist das für einen wie ihn keine mehr. Es ist fast, wie in Stuttgart die Königstraße hochzugehen. Vom Gefühl wie auf dem Mond ist er da weit entfernt.