In den vergangenen Monaten gab es im Kreis Ludwigsburg etliche Fälle von Kriminalität durch sehr junge Tatverdächtige. Fälle, die weit über übliche „Jugendsünden“ hinausgehen. Spricht das für eine zunehmende Verrohung?
Ein Prozessauftakt: Vergangenen Donnerstag hat am Landgericht Stuttgart die nichtöffentliche Verhandlung gegen einen 16-Jährigen begonnen. Ihm wird unter anderem vorgeworfen, am Karfreitag vergangenen Jahres in Steinheim einen 15-Jährigen mit einem Messer schwer verletzt zu haben. Im März 2022 sollen drei neunjährige Jungs in Marbach eine Hütte angezündet und auf mehreren Gartengrundstücken eine Spur der Verwüstung hinterlassen haben. Im November dann gab es in Ludwigsburg in der Nähe des Arsenalplatzes eine Attacke, bei der ein 20-Jähriger mit einem Schlagstock und einem Messer schwer verletzt wurde: Die ersten beiden Tatverdächtigen, die die Polizei ermitteln konnte, waren 13 und 14 Jahre alt.
Schlimme Fälle gab es schon immer
Viele gewinnen durch solche Fälle den Eindruck, dass Kinder und Jugendliche immer krimineller und immer brutaler werden. Aber ist das wirklich so? „Es gab immer schon schlimme Fälle“, sagt Katrin Straub. Sie arbeitet als Leiterin der Jugendhilfe im Strafverfahren beim Ludwigsburger Landratsamt und ist damit erst für Jugendliche ab 14 Jahren zuständig – noch Jüngere seien ohnehin strafunmündig. Und Straub betont, es sei nur ein kleiner Prozentsatz junger Menschen, der überhaupt auffalle. Das sei in dem Alter aber auch „ein bisschen ‚normal’, um seine Grenzen auszutesten. Und Bagatellkriminalität macht den Großteil aus.“ Bei den meisten wachse sich das Verhalten außerdem wieder aus, nur bei einem kleinen Teil nicht – das sind die Intensivtäter: „Aber auch die gab es schon immer.“
Fakt ist: Bereits in einer 1997 von der Gewerkschaft der Polizei veröffentlichten Schrift zum Thema Jugendgewalt und -kriminalität ist von einer „dramatisch in die Höhe geschnellten Jugendkriminalität“ die Rede. Davon betroffen seien vor allem Gleichaltrige, heißt es darin. Eine Anfrage beim Polizeipräsidium Ludwigsburg ergab, dass laut der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) die Zahl der Kinder, die Straftaten begehen, in den vergangenen Jahren tatsächlich zugenommen hat. So sei 2021 im Landkreis Ludwigsburg ein Anstieg um immerhin 22,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zu verzeichnen gewesen, wobei es sich vor allem um Sachbeschädigungen gehandelt habe, während die Zahlen unter Jugendlichen und Heranwachsenden seit 2018 rückläufig seien. Auch landesweit habe lediglich die Zahl der Straftaten von Kindern um stark elf Prozent zugenommen; bei allen anderen Gruppen seien die Zahlen dagegen rückläufig.
Ein Anstieg der Fälle von Kriminalität in der Statistik muss allerdings nicht unbedingt bedeuten, dass die Zahlen tatsächlich größer werden. Es kann auch einfach daran liegen, dass die Polizei verstärkt kontrolliert oder mehr Vergehen angezeigt werden.
Mehr tatverdächtige Kinder
Der Tübinger Kriminologe Jörg Kinzig relativiert die Zahlen aber noch aus anderen Gründen. Tatsächlich weise die Kriminalstatistik 2021 deutschlandweit einen Zunahme der Kinderkriminalität um gut 9,7 Prozent aus – mit insgesamt 68 725 tatverdächtigen Kindern. Im Jahr zuvor sei allerdings ein Rückgang um 14 Prozent zu verzeichnen gewesen. „Zudem ist zu sehen, dass die Kinderkriminalität 2021 noch unter dem Niveau der Vor-Corona-Zeit 2019 lag.“ Der Rückgang 2020 könnte durchaus „auch auf eingeschränkte Tatgelegenheiten im Zusammenhang mit den Maßnahmen im Zuge der Pandemie zurückzuführen sein“, so der Professor. Gesicherte Erkenntnisse darüber gebe es allerdings nicht. Ebenso unklar seien die Gründe für den jüngsten Wiederanstieg. „Möglicherweise handelt es sich einfach um eine Rückkehr zu dem vor Corona beobachteten Niveau, möglicherweise wirken sich aber auch die Belastungen der Corona-Zeit kriminalitätsverstärkend aus.“
Letzteres ist auch eine Hypothese von Katrin Straub: „Fehlende Kontakte und das Zusammenleben mit der Familie auf engstem Raum sind in der Entwicklungsphase nicht förderlich.“ Generell spiele das Elternhaus eine große Rolle dabei, ob Kinder und Jugendlichen straftätig würden oder nicht. Wer Gewalterfahrungen mache, lerne nicht, Konflikte anders zu lösen. Auch Alkohol- und Drogenmissbrauch – von den Eltern oder dem Nachwuchs – wirke sich negativ aus. Hinzu komme die Dynamik bestimmter Jugendgruppen. „Manche trauen sich dann nicht, im Zweifelsfall einen Rückzieher zu machen.“ Ein großer Schutzfaktor sei es dagegen, wenn sich Eltern für ihre Kinder interessierten und ein positives Vorbild seien, aber auch, wenn es klare Strukturen gebe.
Das Elternhaus spielt eine wichtige Rolle
Von einer zunehmenden Verrohung von Kindern und Jugendlichen könne jedenfalls keine Rede sein, betont Straub. Und auch die oft geforderten härteren Strafen wären aus ihrer Sicht nicht sinnvoll und würden junge Menschen nicht von der Begehung einer Straftat abhalten: „Das sind oft unüberlegte Spontantaten; die Folge spielt bei der Begehung der Tat überhaupt keine Rolle.“ Dazu passt die Aussage, mit der ein Staatsanwalt aus Hannover in der erwähnten Broschüre der Polizeigewerkschaft zitiert wird: „Je jünger die Leute sind, desto höher ist die Gewaltbereitschaft. Die haben keine Ahnung, was sie anrichten.“ Katrin Straub erklärt, im Umgang mit jungen Straftätern sei es sehr wichtig, mit ihnen im Nachgang zu arbeiten und ihnen dabei deutlich zu machen, was sie angerichtet hätten. Bei Gewalttaten sollten sie sich beispielsweise in die Rolle eines Geschädigten hineinversetzen, etwa in einem sogenannten Täter-Opfer-Ausgleich mit Unterstützung eines Mediators.
Was sagt die Statistik zu Tatverdächtigen und Straftaten noch?
Definition
Bis zu einem Alter von 14 Jahren gilt man als Kind, zwischen 14 und 18 Jahren als Jugendlicher, von 18 bis 21 Jahren als Heranwachsender.
Straftaten
Bei den von unter 21-Jährigen begangenen Straftaten im Bereich des Polizeipräsidiums Ludwigsburg, zu dem auch der Landkreis Böblingen gehört, standen Rauschgiftdelikte mit 19,6 Prozent an der Spitze, gefolgt von Rohheitsdelikten mit 18,2 Prozent und Diebstählen mit 17,9 Prozent.
Intensivtäter
Zum Ende des Jahres 2021 wurden acht jugendliche Intensivtäter im Initiativprogramm des Polizeipräsidiums Ludwigsburg geführt. Weitere fünf waren als Schwellentäter eingestuft.