Stuttgart - Die Tage von Yasemin Kosan laufen fast alle gleich ab: Sie verbringt sie überwiegend vor dem Fernseher. Zu viel mehr ist die 47-jährige Frau nicht mehr in der Lage, seit sie vor fünf Jahren einen Schlaganfall hatte. Sie kann nicht mehr richtig sprechen und kaum noch gehen, bei allem, was zu tun ist, ist sie auf Hilfe angewiesen. Und es ist nicht übertrieben zu behaupten, der Fernseher ist ihre Verbindung mit der Außenwelt. Doch genau darüber gibt es Streit.
Eine bemerkenswerte Begründung
Yasemin Kosan will sich von den Rundfunkgebühren befreien lassen. Dies ist unter anderem dann möglich, wenn der oder die Betroffene wegen einer Behinderung „ständig“ nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen kann. Doch zuerst hat das Sozialgericht in Heilbronn den Antrag der pflegebedürftigen Frau aus dem Kreis Ludwigsburg abgelehnt und nun auch das Landessozialgericht in Stuttgart. Die Begründung: Die Befreiung von den Rundfunkgebühren würde dem Gedanken der Inklusion widersprechen.
„Der Gedanke hinter dem Urteil ist eigentlich schön“, sagt Nilay Kosan, die sich gemeinsam mit ihrer Schwester und ihrem Vater um ihre Mutter kümmert. Aber, das sagt die Tochter eben auch: „Man kann Inklusion nicht erzwingen.“
Auch eine Kochshow birgt Gefahr
Was Yasemin Kosan Tag für Tag im Fernsehen anschaut, sind harmlose Sendungen. Liebesgeschichten, Komödien, Koch- oder Musikshows – und selbst das ist manchmal alles andere harmlos. Es kann sein, so berichtet Nilay Kosan, dass ihre Mutter plötzlich zu schreien beginnt und zu toben, weil sie sich über einen Widersacher im Film aufregt oder weil der aus ihrer Sicht falsche Koch ein Duell gewinnt. Dann müsse man das Programm wechseln, eine Garantie für eine Beruhigung der Lage sei aber auch das nicht. Ein Besuch im Kino oder Theater – für Nilay Kosan unvorstellbar.
Nicht aber für den sechsten Senat des Landessozialgerichts. Grob zusammengefasst urteilt er: Kreisch- und Tobsuchtsanfälle müssen die Leute aushalten. Konkret formuliert er es so: „Vielmehr hat die Allgemeinheit diese krankheitsbedingten Störungen zu akzeptieren und hinzunehmen, um einer Diskriminierung entgegenzuwirken.“ Außerdem, erklärt das Gericht weiter, zählen zu öffentlichen Veranstaltungen nicht nur Kino- und Theatervorführungen, sondern beispielsweise auch Märkte, Messen, Tier- und Pflanzengärten oder Sportveranstaltungen. Die Teilnahme an derlei Angeboten sei Yasemin Kosan durchaus möglich. Wörtlich heißt es: „Die Unmöglichkeit der Teilnahme an solchen Veranstaltungen sei nur dann gegeben, wenn der Schwerbehinderte wegen seines Leidens ständig, damit allgemein und umfassend, vom Besuch ausgeschlossen ist.“ Yasemin Kosan schaut nicht die Sendungen, die bei ARD und ZDF laufen. Ihre Familie hat Netflix und andere Bezahlangebote, wo sie Filme und Serien auswählen, die die Mutter gut anschauen kann, also mit möglichst wenig Anlässen zum Ausflippen. Ohnehin würden die Kosans nicht sonderlich viel Geld sparen, würde ihre Mutter von den Rundfunkgebühren befreit. Statt 17,50 Euro pro Monat müssten sie lediglich noch 5,83 Euro bezahlen.
Es geht nicht mehr um Geld
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Inzwischen geht es der Familie Kosan aber sowieso nicht mehr so sehr ums Geld, sondern ums Prinzip. „Die Leute sehen nicht, wie schwierig es ist“, sagt Nilay Kosan. Selbstverständlich würde sie ihre Mutter auf Märkte, Messen und auch sonst überall hin begleiten. Tatsächlich jedoch versuchen die Kosans Aktivitäten weitgehend zu vermeiden, und das nicht nur wegen Corona. „Es ist eine Qual, dorthin zu kommen“, sagt Nilay Kosan, die mit „dorthin“ alles meint.
Die Mutter schämt sich
Die Mutter ausgehfertig zu machen – eine Prozedur. Sie ins Auto zu bringen – ein Kraftakt. Ein Toilettengang unterwegs – eine Tortur. Für Yasemin Kosan ebenso wie für ihre Familie. Steht ein Arzttermin an, sagt Nilay Kosan, „schlafen wir zwei Tage vorher nicht.“ Vor lauter Grübeln, ob alles gutgeht. Hinzu komme, dass die Mutter sich schämt. Durch ihre Medikamente hat Yasemin Kosan stark zugenommen. Von einer Operation ist ihr eine große Narbe am Kopf geblieben. Und ihre zeitweise auffällige Artikulation sei ihr durchaus bewusst, sagt Nilay Kosan, die weiß, dass ihre Mutter schon oft Blicke auf sich gezogen hat. „Das belastet sie.“
Kritik vom Sozialverband
An dieser Stelle greift auch der Sozialverband VdK das Urteil an, das er grundsätzlich gut findet. Aus der praktischen Arbeit weiß der Landesvorsitzende Hans-Josef Hotz allerdings auch, dass es Hürden gibt, „die in der Praxis gerade schwerstbehinderten Menschen die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen unmöglich machen“. Der VdK plädiert deshalb dafür, die Bedingungen für die Gebührenbefreiung zu überdenken. Statt „ständig“ nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen zu können, sollte es reichen, wenn die Betroffenen „überwiegend“ davon ausgeschlossen sind.
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Der Anwalt der Familie Kosan hat vorgeschlagen, das Urteil anzugreifen, um es dem Bundessozialgericht vorlegen zu können. „Dieser Fall geht über ein Einzelschicksal hinaus. Er betrifft sicher eine größere Anzahl von Menschen, die in der gleichen Lage sind“, sagt Stefan Hüther. Familie Kosan hat sich entschieden, weiter zu kämpfen. Ihre Position ist klar: „Man sollte den Betroffenen selbst überlassen, an welchen Veranstaltungen sie teilnehmen.“