Zum 60-jährigen Jubiläum der europäischen Einigung ist die Gemeinschaft aufgerufen, sich weiterentwickeln. Die EU muss künftig mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten voran gehen.

Stuttgart - An guten Ratschlägen für die Jubilarin fehlt es nicht. Sie müsse erwachsener werden, gibt ihr Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble mit auf den Weg – was zum 60. Geburtstag etwas seltsam anmutet. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker eröffnet dem Geburtstagskind gleich fünf Szenarien für seine nächste Lebensphase. Das heißt dann wohl: 60 Jahre europäische Einheit waren nicht schlecht, aber es muss besser werden.

 

Als am 25. März 1957 in Rom die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften unterzeichnet wurden, geschah dies „in dem festen Willen, die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen“. Seitdem ist dieses schöne Ideal der „ever closer union“ einerseits zum Markenzeichen der EU geworden, andererseits war es Quell unzähliger Streitereien. Denn je größer die Union in den 60 Jahren ihres Bestehens geworden ist, desto klarer wurde, dass sie den Leitgedanken ihrer Anfangsjahre nicht in eine gemeinsame, konsistente Politik umsetzen kann. Zweifellos hat die EU ihre Erfolge als Wirtschaftsgemeinschaft, sie hat das Zusammenleben der Menschen erleichtert und tritt auch nach außen geschlossener auf, als es eine Ansammlung europäischer Nationalstaaten je hätte tun können. Dennoch fehlen ihr heute „sowohl der Gestaltungswille als auch die Fähigkeit, das europäische Interesse einheitlich abzubilden“, so die Kritik des Historikers Werner Abelshauser.

Europa muss als Wertegemeinschaft auftreten

Ursache für diesen Mangel ist vor allem die Weigerung ihrer Mitgliedstaaten, durch einen weiter gehenden Verzicht auf nationalstaatliche Kompetenzen die Grundbedingung für eine immer engere Union zu erfüllen. „Der Nationalstaat hat ausgedient!“ ist zwar ein ständiges Postulat in der politischen Diskussion, in der europäischen Realität ist aber das Gegenteil eingetreten. Durch die Aufblähung der EU von 6 auf 28 (künftig 27) Staaten haben sich die Interessenkonflikte zugespitzt, die Union ist größer, aber auch brüchiger geworden. Die Krisen und das Krisenmanagement der jüngeren Vergangenheit haben das Ihrige dazu getan. Zudem sind die ideologischen Gräben tiefer geworden. Und so steht die 60-Jährige an ihrem Festtag vor der alten Frage: Was will Europa sein?

Die Antwort ist heute drängender als früher. Denn in der aktuellen politischen Lage muss sich Europa nicht nur als wirtschaftliche und politische Macht behaupten, es muss auch als Wertegemeinschaft auftreten. Wenn durch autoritäre oder verantwortungslose Staatschefs weltweit in einem bisher ungeahnten Ausmaß demokratische Errungenschaften infrage gestellt oder gleich abgeschafft werden, wer könnte da einen besseren Gegenpol bilden als eine politisch gefestigte und in ihrem Wertekanon einige Europäische Union?

Jean-Claude Juncker hat in den fünf Szenarien seines Weißbuchs zur Zukunft der EU unter anderem den Punkt aufgeführt: „Wer mehr will, tut mehr.“ Diese Option wäre natürlich das Eingeständnis, dass die ideale „ever closer union“ gescheitert ist. Aber sie böte die Chance, dass zumindest ein Teil Europas diesen Weg weitergeht, ohne von den ideologischen oder nationalstaatlichen Bremsern aufgehalten zu werden. Ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten ist immer noch besser als ein gelähmtes Europa.

Dies umso mehr, als sich das Bild Europas in der Öffentlichkeit aktuell wandelt. In dem Maße, wie sich die Krisen außerhalb Europas zuspitzen, scheint die Zustimmung im Inneren zu steigen – was nicht nur Umfragen zeigen, sondern auch Bürgerbewegungen wie Pulse of Europe. Diesen Umschwung muss die Union befördern. In der geplanten Abschlusserklärung des Gipfels in Rom behauptet die EU, sie sei „einzigartig“. Wenn dies im positiven Sinne auch für die Zukunft gelten soll, muss sich Europa schnell auf den richtigen Weg machen.