Neue Entdeckungen und Hinweise zur Stuttgarter Zeit des späteren Nazi-Jägers und hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer: Dank des Geschichtsprojekts Stuttgart 1942, das unsere Zeitung gemeinsam mit dem Stuttgarter Stadtarchiv aufgelegt hat, liegt nun auch eine Ansicht des im Krieg zerstörten Elternhauses von Fritz Bauer in der Seestraße im Stuttgarter Norden vor. Die Existenz des Fotos war bisher nicht bekannt. Es gehört zu dem Bestand von rund 10 000 Aufnahmen, die die Stadt Stuttgart im Kriegsjahr 1942 systematisch anfertigen ließ.
Die spannende Vorgeschichte
Jüngst hatten wir – ebenfalls unbekannte – Bilder des Wohnhauses der Familie Bauer in der benachbarten Wiederholdstraße 10 gezeigt. Daraufhin schrieb uns Bernhard Klar, ein ehemaliger Mitarbeiter des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg: „Der Bericht über Fritz Bauers Wohnhaus in der Wiederholdstraße hat mich neugierig gemacht, denn da muss es noch eine Vorgeschichte geben.“ In der Tat, denn, wie Bernhard Klar richtig bemerkt: 1903, dem Jahr in dem Fritz Bauer geboren wurde, gab es in der Wiederholdstraße noch keine Hausnummer 10. „Das Gebäude dürfte um 1906 erbaut worden sein“, schreibt Klar: „Im Haus Nummer 14 wohnte damals der Architekt Paul Bonatz und plante sein erstes eigenes Wohnhaus.“
Fritz Bauers Wiege stand gewissermaßen um die Ecke – in der Seestraße 59 und dort im 1. Stock. Stefan Heinz vom Stuttgarter Stadtarchiv hat die Geburtsurkunde ausfindig gemacht. Sie liefert dafür den Beleg. Der transkribierte Auszug aus dem Geburtsregister lautet: „Vor dem unterzeichneten Standesbeamten erschien heute (…) der Kaufmann Ludwig Bauer, wohnhaft in Stuttgart, Seestraße 59, israelitischer Religion, und zeigte an, daß von der Ella Bauer, geborene Hirsch, seine Ehefrau, israelitischer Religion, wohnhaft bei ihm zu Stuttgart in seiner Wohnung am sechzehnten Juli des Jahres tausend neunhundert drei nachmittags um vier Uhr ein Knabe geboren worden sei und daß das Kind die Vornamen Fritz Max erhalten habe.“ Eine Hausgeburt also.
Vater Ludwig Bauer hatte die Wohnung um die Jahresmitte 1902 gemietet, so fand Bernhard Klar heraus: „Im Nebenhaus (Seestraße 61) hatte sich kurz zuvor Ludwigs Bruder Max eingemietet.“ Die Familie stand sich offensichtlich nah, und die Seestraße 59 war gewissermaßen Fritz Bauers Kinderstube. Die ersten neun Lebensjahre verbringt er hier, unterbrochen immer wieder von Aufenthalten in Tübingen, wo seine Mutter herstammte und seine Großeltern lebten, und wo er als Kind und Jugendlicher besondere Geborgenheit empfindet. 1906 wird seine Schwester Margot geboren. 1912 ziehen die Bauers dann um die Ecke – in die Wiederholdstraße 10, dritter Stock.
Die Bauers wohnten in prominenter Nachbarschaft
Die Lage ist gehoben. Im selben Haus wohnen ausweislich des Adressbuchs der Stadt Stuttgart von 1913 ein Hoteldirektor, die Frau eines Bankdirektors, ein weiterer Kaufmann und zwei „Privatiers“ – und in der Nachbarschaft ein bedeutender Künstler: „Im Hintergebäude Nr. 10a betrieb der bekannte Bildhauer Jakob Brüllmann seine Werkstatt“, hat Bernhard Klar herausgefunden. Brüllmann, ein gebürtiger Schweizer, gehörte zum Vorstand der Stuttgarter Sezession. Von ihm stammen unter anderem das Relief in der großen Schalterhalle im Stuttgarter Hauptbahnhof, das Relief über dem Hauptportal des Gustav-Siegle-Hauses und Reliefs in der Vorhalle des Kunstgebäudes.
Klars Nachforschungen haben außerdem ergeben, dass die Eltern von Fritz Bauer 1936 aus der Wiederholdstraße 10 ausziehen und sich eine Wohnung in der Feuerleinstraße in der Nähe des Hölderlinplatzes nehmen. Zu diesem Zeitpunkt war Fritz Bauer vor den Nazis bereits nach Dänemark geflüchtet. Seine Eltern folgten ihm 1940. Sein Onkel Julius, der dritte der Bauer-Brüder, „hat wohl bereits 1939 Stuttgart verlassen“, schreibt Bernhard Klar. „Der andere Bruder, Max Bauer, bleibt in Stuttgart zurück, er ist inzwischen verwitwet und stirbt 1941.“
Die Geschichte des Hauses Seestraße 5
Interessantes weiß Bernhard Klar auch von der Seestraße 5 zu berichten, die heute Huberstraße heißt. Dort betrieben die drei Bauer-Brüder, Ludwig, Max und Julius, ein Geschäft für Manufakturwaren. Es bildet die wirtschaftliche Grundlage der Großfamilie. Der Vater, Adolf Bauer, hatte das Geschäfts- und Wohnhaus in der Seestraße 5 in den 1890er Jahren gekauft und dort die Firma gegründet. Im Erdgeschoss des fünfstöckigen Gebäudes waren demnach die Geschäftsräume der Firma untergebracht. Im 1. OG wohnte Adolf Bauer mit seiner Frau. Nach seinem Tod 1908, so ergaben Klars Recherchen, wurde seine Frau Auguste als Eigentümerin der Immobilie geführt. Als sie 1927 starb, wurde das 1. OG vermietet. Sigfried Sänger, ein jüdischer Arzt, richtete dort eine Kinderarztpraxis ein. Einige Jahre später wanderte er nach Palästina aus.
Was ist der geeignete Platz für eine Gedenktafel?
„Als nächste Mieter“, so schreibt Klar, „ziehen 1933 ein ehemaliger Rabbiner, Samuel Neuwirth, und seine Frau Babette in die Seestraße 5 ein. 1939 muss er die Seestraße wieder verlassen. Am 11. März 1941 stirbt Neuwirth in der Rosenbergstraße 174. Seine Frau wird knapp sechs Monate später in ein Lager in Laupheim eingewiesen und von dort am 22. August 1942 nach Theresienstadt und am 29. September 1942 in das Vernichtungslager Treblinka deportiert.“ Diese Recherchen verbindet Bernhard Klar mit einem Vorschlag: „An Babette Neuwirth könnte vor dem Gebäude Huberstraße 5 (früher Seestraße) ein Stolperstein erinnern, da dort ihr letzter frei gewählter Wohnort war.“
Zurück zu Fritz Bauer und seinen Stuttgarter Stationen. Schülerinnen und Schüler des Eberhard-Ludwigs-Gymnasiums, seiner früheren Schule, gedachten ihm anlässlich seines 120. Geburtstags am 16. Juli intensiv. Unter anderem regten sie an, eine Gedenktafel in der Wiederholdstraße 10 anzubringen, wo Fritz Bauer von 1913 bis 1921 wohnte. Kulturbürgermeister Fabian Mayer sagte bereits seine Unterstützung zu. Indes stellt sich die Frage, ob die Seestraße 59, das Elternhaus von Fritz Bauer, nicht der geeignetere Standort wäre? Oder beide?