An der Werastraße in Stuttgart hat der technikbegeisterte Tobias Schulz eine hochauflösende Kamera auf seinem Dach installiert, die Bilder der innerstädtischen S-21-Baustelle ins Netz sendet – ob es voran geht, oder nicht.

Stuttgart - Bevor der Termin beginnen kann, muss erst ein Aufstieg bewältigt werden, bei dem Höhenangst eher hinderlich ist. Durch eine winzige Kammer hindurch geht es durch ein noch kleineres Fenster, über schmale Schornsteinfegerstufen auf das Dach eines Hauses im Kernerviertel. Hoch droben, über den Dächern der Stadt, hat Tobias Schulz vor zwei Jahren eine Kamera installiert, die den Baufortschritt beim umstrittenen Bahnprojekt Stuttgart 21 oder eben den nichtvorhandenen solchen dokumentieren soll. Der Blick auf die Grube ist spektakulär, die Panorama-Sicht in den Kessel unbezahlbar.

 

Es gab eine Zeit in Stuttgart, in der man zur Begrüßung nicht nach dem werten Wohlbefinden, sondern nach der politischen Gesinnung im Fall von S 21 gefragt wurde. Tobias Schulz ist dagegen völlig unpolitisch. Der 40-Jährige ist ein Technikfreak. Bei der Stuttgarter Werbeagentur Grüne und Faust ist er als technischer Berater für all das zuständig, was bei Webseiten im Hintergrund abläuft. Woher kommt ein User, wenn er auf eine Webseite klickt, wie lange verweilt er auf einer Seite, welche Homepage nutzt er als nächstes. „Ich untersuche, was für eine Ausdauer man braucht, um eine Werbekampagne online zum Ziel zu führen“, erklärt Schulz.

Der Blick auf die Baustelle ändert sich bei jeder Witterung

Bei seiner S-21-Kamera interessiert sich Schulz zum einen für die technischen Möglichkeiten des Geräts, zum anderen für den dokumentarischen Aspekt der Kamera. „Ich verstehe Stuttgart 21 als zeitlichen Begriff und nicht politisch. Mich interessiert der Blick auf das Areal.“ Die spezielle Ästhetik der riesigen Brache bei Schneefall etwa, die Aufnahmen von Silvester, dunkle Wolkenstimmung über S 21: „Vielleicht haben wir in zehn Jahren ja ganz tolles Material, das die Entwicklung der Stadt an dieser Stelle dokumentiert.“

Wer neben der Kamera steht, hört die Baustelle auch

Klar ist heute schon: Vom Dachfirst an der Werastraße hat der virtuelle Baustellenbesucher einen außergewöhnlichen Blick auf das große Graben im Herzen der Stadt. Der Blick reicht vom Mittleren Schlossgarten über die Stege, die den Bonatzbau mit dem nach Norden gerückten Querbahnsteig verbinden, bis zu den stehen gebliebenen Resten der ehemaligen Bahndirektion an der Heilbronner Straße, hinter der sich die Mineure derzeit in den Kriegsberg graben. Wer den Aufstieg zur Kamera wagt, wird mit einem grandiosen Stadtpanorama – das weit über das Stuttgart-21-Baufeld hinausreicht – belohnt, bekommt aber auch einen Eindruck davon, warum sich viele Bewohner des Kernerviertels über den Baustellenlärm beklagen. Die Manöver der Bagger, Lastwagen und Bohrgeräte ist nicht nur mit bloßem Auge zu verfolgen – die Baugeräusche wehen herüber an den Hang, auf dem das Haus mit der Kamera steht.