Stuttgart 21 Der Tiefbahnhof im Kleinformat
Reinhard Dörre hat einen diffizilen Bereich der Stuttgarter Bahnsteighalle nachgebaut. Das Modell im Maßstab 1:20 hilft den S-21-Ingenieuren, den Überblick zu behalten.
Reinhard Dörre hat einen diffizilen Bereich der Stuttgarter Bahnsteighalle nachgebaut. Das Modell im Maßstab 1:20 hilft den S-21-Ingenieuren, den Überblick zu behalten.
Stuttgart - Stuttgarts Zukunft zeigt sich im Hinterhof eines Gewerbegebiets der nordrhein-westfälischen Stadt Erkrath. Wer das unscheinbare Gebäude betritt, steht in einer Werkstatt, die fast so wirkt, als hätte sie jemand inszeniert. Überall liegt Material herum, Maschinen, deren Zweck sich dem Laien nicht unmittelbar erschließt, nehmen reichlich Raum ein, und an den Wänden hängen Pläne, aus denen der Unbedarfte nicht auf Anhieb schlau wird. Die Anordnung ist keine Kulisse, sondern der Arbeitsplatz von Reinhard Dörre. Der Modellbauer steht vor einem Modell, das im Maßstab 1:20 einen Ausschnitt des neuen Durchgangsbahnhofs von Stuttgart 21 zeigt. Dörre arbeitet an der Replik eines außergewöhnlichen Ausschnitts der Bahnsteighalle. Seit Kurzem steht das fertige Werk in einem Bürocontainer auf der Bahnhofsbaustelle.
Der 55-jährige Dörre arbeitet im Auftrag des S-21-Architekten Christoph Ingenhoven an einem besonders komplexen Abschnitt der Bahnstation. Wer diese einmal nach der Inbetriebnahme durch den gewölbten gläsernen Eingang – der sogenannten Gitterschale – am Kurt-Georg-Kiesinger-Platz betritt, steht auf einer der 28 für die Bahnsteighalle so charakteristischen Kelchstützen. Nur dass diese eine an ihrem oberen Ende nicht in eines der Lichtaugen übergeht, die Kritiker an Glupschaugen erinnern, sondern in einem der vier Zugangsbereiche der neuen Station. Anders als die anderen Kelche, die das Dach bilden und Tageslicht auf die Bahnsteige lenken sollen, wird diese besondere Stütze von einem Aufzug sowie mehreren Treppen und Rolltreppen durchbrochen. Eine zwischen der Oberfläche und der Gleisebene verlaufende Verteilerebene soll es den Fahrgästen erlauben, zu den Zügen zu gelangen.
Als wäre das noch nicht komplex genug, liegt der im Model nachgebaute Abschnitt des Bahnhofs auf einer unterirdischen Brücke über die bestehenden zwei S-Bahn-Gleise. Unter den 28 Stützenkonstruktionen, die einmal das Dach der Bahnsteighalle bilden sollen, nimmt dieser Abschnitt eine herausgehobene Stellung ein. „Sonderkelch“ nennen die Bahnhofsbauer diesen Bereich, um ihn von den 27 übrigen Stützelementen des Dachs abzuheben. Eines davon ist mittlerweile in Beton gegossen und vermittelt einen Eindruck von den Dimensionen, die die Bahnsteighalle später einmal haben wird.
„Nichts an diesem Vorhaben ist gewöhnlich“, sagt Reinhard Dörre. Er steht in seiner Werkstatt und meint mit der Bemerkung nicht etwa den milliardenschweren Umbau des Stuttgarter Bahnknotens, sondern sein Modell, das ihn bis zur Fertigstellung gut 1500 Arbeitsstunden lang auf Trab halten wird. „An diesem Abschnitt ist so gut wie nichts rechtwinklig“, sagt der Düsseldorfer. Selbst der Verbindungsgang, der von den vier Bahnsteigen des Bahnhofs zur S-Bahn-Station führt, weist die für den neuen Halt typischen geschwungenen Formen auf. Die Ingenieure, die diesen Verbindungsgang in Beton gießen, haben dem Bauwerk der unregelmäßigen Form wegen den Beinamen Kartoffel gegeben.
Wie auf der Stuttgarter Baustelle ist auch im 400 Kilometer entfernten Erkrath die Statik eine Herausforderung. Der Nachbau einer halben, im Schnitt gezeigten Kelchstütze ruht auf einem einzigen Punkt. Mehrere Sorten Kunststoff hat Reinhard Dörre in der Stütze verbaut, von einer sehr harten, schweren Sorte im Fuß bis zu leichteren Materialien in den oberen Bereichen. 15 Kilo wiegt alleine die Stütze, das gesamte zwei Meter lange, 80 Zentimeter tiefe und anderthalb Meter hohe Modell bringt 100 Kilo auf die Waage.
Ein Gewicht, das den Modellbauer vor Herausforderungen stellt, Michael Pradel aber eher kalt lässt. Der Brandenburger ist Bauingenieur, bei Stuttgart 21 für den eigentlichen Bahnhofsbau verantwortlich – und damit auch für den besonderen Kelch, von dem Dörre ein Abbild in klein geschaffen hat. „Der Sonderkelch wiegt soviel wie zehn ICE 4“, sagt der Experte. Die größte Herausforderung sei die Statik. Dass unter dem Stuttgarter Bahnhofsbau an der Stelle, an der die Stütze steht, auch noch die S-Bahn-Röhren liegen, macht die Sache nicht gerade einfacher. Die beiden Bauwerke sollen sich später nicht berühren, sie werden von einer zehn Zentimeter starken Wasserschicht getrennt. Noch klafft dort eine große Baugrube.
Damit muss sich Reinhard Dörre nicht befassen. Seit 35 Jahren ist er Modellbauer. Sein Vater war Architekt, so dass er früh mit dem für diese Branche so wichtigen Modellbau in Berührung gekommen ist. Zu seinen Kunden zählen Bauherren, Architekten und Planer. Mit dem Büro des Bahnhofsarchitekten Christoph Ingenhoven arbeitet er seit 1992 zusammen. „Das ist ein spannender Kunde. Jedes Modell für ihn ist eine neue Herausforderung.“
Aber nicht nur die Entwürfe seiner Kunden haben sich mit den Jahren gewandelt und wurden immer komplexer. Als Dörre seine Karriere begann, waren Holz und Plexiglas die vorherrschenden Materialen in der Werkstatt. „Damals wäre eine solche Arbeit gar nicht möglich gewesen“, sagt er mit Blick auf den Ausschnitt des Stuttgarter Bahnhofs, der einen großen Teil seiner Werkstatt einnimmt. In der Anfangszeit seines Modellbauerdaseins habe man alle Maße aus Plänen herauslesen müssen. Heute liefern seine Auftraggeber Daten in 3-D-Programmen für den Computer. Das Holz und das Plexiglas der vergangenen Tage ist längst moderneren Werkstoffen gewichen. „Viel von dem Modell ist aus Kunststoff gefräst“, sagt Dörre. Lediglich die Verbindungsstücke für die Gitterschale, wie der Architekt den glasüberspannten Eingang des Bahnhofs nennt, sind aus dem 3-D-Drucker. Die Komplexität des Entwurfs setzt dem Maschineneinsatz Grenzen. Der Rest ist geduldige Handarbeit.
Der für Modellbauer eher ungewöhnliche Maßstab von 1:20 erlaubt, detailversessener zu arbeiten als in den eher gängigen Maßstäben von 1:100 oder 1:200. So sind hier die Fugen zu sehen, wo der Kelchfuß in die Kelchstütze übergeht. Auch auf der Baustelle wird dies in zwei separaten Arbeitsschritten betoniert, so dass der Übergang zu sehen sein wird.
In dem Aufzugsschacht, der wie vieles in dem Schnittmodell halbiert ist, hängt an mit einem Gegengewicht gesicherten Aufzugsseil die halbe Liftkabine, deren Decke selbstverständlich beleuchtet werden kann. „Natürlich habe ich den Ehrgeiz, so detailgenau wie möglich zu bauen“, sagt Dörre. Doch der Wille allein ist nicht entscheidend. Man müsse schon sehr exakt arbeiten, damit die verschiedenen Einzelteile ein stimmiges Ganzes ergeben. Nicht nur die Struktur seines Werkteils ist für Dörre wichtig. „Die Farbgebung muss passen. Das Modell soll schließlich das darstellen, was einmal in groß entsteht.“ Also ist sein Werk auch in hellen Tönen gehalten. Die Farbgebung des Betons, der wenig nachbehandelt werden soll, hat schon die Bauer von Stuttgart 21 herausgefordert.
Auf der echten Bahnhofsbaustelle ist Reinhard Dörre noch nicht gewesen. Sollte er doch einmal einen Abstecher in den Südwesten machen, kann er nochmals seine aufwendige Arbeit in Augenschein nehmen. Mittlerweile steht das Modell in Stuttgart. Wenn Michael Pradel sein Baubüro verlässt, das in etwa da steht, wo früher einmal der Zentrale Omnibusbahnhof war, kommt er an Dörres Werk vorbei. Von Glasscheiben geschützt, erinnert das Modell Pradel ständig an die Herausforderungen, die da noch kommen. Im Jahr 2021 soll der Sonderkelch in die Höhe wachsen.