Ein Boykottbrief eines Ehepaares, das gegen Stuttgart 21 ist, wird von der Justiz als versuchte Nötigung gewertet – und verfolgt.
Stuttgart - Nach dem, was Stefan Cramer und seine Frau Erika erlebt haben, gibt es für sie keinen Zweifel mehr: Die Stuttgarter Justiz, so der Vorwurf des Ehepaars, will mit einer härteren Gangart und fragwürdigen Methoden engagierte Stuttgart-21-Gegner einschüchtern. Anders können sie sich nicht erklären, was ihnen widerfahren ist. Am 30.Oktober vergangenen Jahres stand das Ehepaar nach der Rückkehr aus einem dreiwöchigen Nordafrikaurlaub unversehens vor seiner Wohnungstür, die sich nicht mehr öffnen ließ. An der Tür hing ein Zettel der Polizei, wonach das Türschloss „ausgetauscht“ worden sei und man sich die Schlüssel beim Polizeiposten Untertürkheim abholen könne.
Die Cramers, beide beschäftigt beim Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche, sind sehr engagiert in der Dritte-Welt-Bewegung, der 59-jährige Geologe betreut und koordiniert für die Hilfseinrichtung Brot für die Welt Projekte in ganz Afrika. Und sie sind entschiedene Gegner des umstrittenen Bahnprojekts. Als solcher hatte Cramer im August 2010 Briefe an mehrere Firmen geschrieben, die am Bau von Stuttgart 21 beteiligt sind, um gegen deren Einsatz an dem milliardenschweren Vorhaben zu protestieren.
In dem namentlich unterzeichneten und mit Absender versehenen Schreiben heißt es unter anderem, man werde sicherstellen, dass die entsprechende Firma keine Aufträge aus der Umgebung von Stuttgart mehr erhalte, falls diese es weiterhin vorziehe, sich an dem „schändlichen Projekt“ zu beteiligen. Dieses offensichtlich als Boykottaufruf gemeinte Schreiben landete bei sechs von sieben angeschriebenen Firmen im Papierkorb. Lediglich ein auf Gleisbauarbeiten spezialisierter Betrieb aus dem westfälischen Hamm erstattete Anzeige.
Durchsuchung privater Papiere
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart wertete den Brief als versuchte Nötigung, befragt wurde Stefan Cramer zu dem Vorgang aber nicht. Und auch sonst tat sich zweieinhalb Monate lang nicht viel. Erst am 19.Oktober – der missglückte Polizeieinsatz im Stuttgarter Schlossgarten mit mehr als hundert zum Teil Schwerverletzten lag gerade drei Wochen zurück – unterschrieb der Stuttgarter Amtsrichter Alexander Brost auf Antrag der Staatsanwaltschaft einen Durchsuchungsbeschluss für die Cramer’sche Wohnung. Eine Woche später rückte, so Cramers Anwalt Roland Kugler, die Polizei „mit großem Besteck an“.
Feuerwehrleute öffneten das Türschloss, Beamte durchsuchten die Wohnung – die Nachbarschaft war in heller Aufregung, ebenso die Hausmitbewohnerin, der das Paar den Wohnungsschlüssel anvertraut hatte. Gefunden und mitgenommen haben die Polizisten auf Cramers PC dann tatsächlich besagte Schreiben an insgesamt sieben Firmen. Durchwühlt wurden laut Erika Hauff-Cramer (61), die bei der Polizei wegen Blockadeaktionen aktenkundig ist, auch private Papiere. Hinterlassen haben die Beamten beziehungsweise Beamtinnen – außer dem Zettel an der Wohnungstür – augenscheinlich auch etwas: Im Küchenabfall fanden die Cramers eine Damenbinde vor.
Cramers wollen Widerstand fortsetzen
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart sieht in dem Verfahren einen ganz normalen und juristisch unzweifelhaften Vorgang, so die Pressestaatsanwältin Claudia Krauth. Der Beschuldigte sei der versuchten Nötigung verdächtigt worden. Er habe erreichen wollen, dass Firmen ihre Aufträge nicht weiter ausführen. Um Beweismittel zu beschlagnahmen, sei die Wohnung durchsucht worden. Vor solch einer Maßnahme werde ein Beschuldigter niemals angehört, sonst habe dieser ja Gelegenheit, Sachen verschwinden zu lassen. Und da sich die Polizei auch nicht vorher anmelde, müsse eine Wohnung eben auch mal aufgebrochen werden, wenn niemand da sei.
Als verhältnismäßig wird die Durchsuchung auch vom Amtsgericht Stuttgart bewertet, das den Beschluss am 19. Oktober 2010 verfügt hat. „Es hat der Verdacht einer versuchten Nötigung bestanden“, erklärt ein Gerichtssprecher auf Anfrage. Rechtsanwalt Kugler dagegen, der erst im Januar, fast drei Monate nach der Durchsuchung, Einsicht in die Akten erhielt, hält die Aktion für „äußerst grenzwertig“. Der Vorwurf der versuchten Nötigung sei seiner Ansicht nach „juristisch nicht haltbar“, das Vorgehen der Justiz sowie der Polizei bewertet Kugler als vollkommen unverhältnismäßig. Man habe „mit Kanonen auf Spatzen geschossen“. Für Kugler steht fest: „Wäre der Briefeschreiber ein unzufriedener Baumarktkunde gewesen, wäre es niemals zu einem Ermittlungsverfahren gekommen.“
Ihren Widerstand gegen Stuttgart 21 wollen die Cramers auch nach dieser für sie unerfreulichen Erfahrung unvermindert fortsetzen. Das Ermittlungsverfahren ist zwischenzeitlich eingestellt worden, wegen Geringfügigkeit, wie es juristisch heißt. Die meisten Firmen hätten dem Schreiben keine Bedeutung beigemessen, sagt Claudia Krauth. „Damit besteht kein öffentliches Interesse, die Sache noch weiter zu verfolgen.“
Rechtliche Grundlagen
Nötigung
Das Strafgesetzbuch (StGB) regelt im Paragrafen 240 den Tatbestand der Nötigung, auf den sich die Staatsanwaltschaft Stuttgart beruft. Strafbar macht sich demnach, "wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt". Auch der Versuch ist strafbar. Geahndet werden kann eine Nötigung mit einer Freiheitstrafe von bis zu drei Jahren oder mit einer Geldstrafe.
Durchsuchung
Die Durchsuchung von Wohnräumen und Beschlagnahme von Beweismitteln stützt sich auf die Strafprozessordnung (StPO). Paragraf 102 regelt unter anderem, dass bei Tätern oder Teilnehmern einer Straftat eine Wohnungsdurchsuchung gemacht werden kann, "wenn zu vermuten ist, dass sie zur Auffindung von Beweismitteln führt". Nach Paragraf 105 dürfen Durchsuchungen nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzug auch durch die Staatsanwaltschaft angeordnet werden. Gegenstände, die als Beweismittel von Bedeutung sein können, sind laut Paragraf 94 sicherzustellen.