Das "alte Stuttgart" hat es nie gegeben. Denn seit 400 Jahren ist die Stadt einem ständigen Wandel unterworfen.
21.03.2010 - 16:04 Uhr
Stuttgart - Der Mensch besitzt doch einen sehr beschränkten Horizont: Wer auf dem Schlossplatz steht und versucht, sich diesen Ort vor 400 Jahren vorzustellen, wird wohl scheitern - trotz der profunden städtebaulichen Fakten, die die Stuttgarter Historiker aus der Zeit um 1600 gesammelt haben. Es fällt dem Menschen eben schwer, sich jenseits der eigenen kurzen Lebensspanne an andere Orte und in andere Kulturen zu versetzen. Der direkte Vergleich der Stuttgarter Innenstadt im Jahr 1592 - aus dieser Zeit gibt es ein detailliertes Modell, weshalb dieses Datum gewählt wurde - und heute zeigt aber eines auf jeden Fall: Kaum ein Stein ist auf dem anderen geblieben.
Das "alte Stuttgart" aus der Zeit vor dem Krieg, das sich manche Bürger zurückersehnen, hat es nie gegeben; auch jenes Stadtbild war nur eine Momentaufnahme, vor dem schon zehn andere "alte Stuttgarts" standen. Die Renaissance unter Herzog Christoph, die industrielle Revolution, die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs, vor allem aber der stete Druck der wachsenden Bevölkerung haben Stuttgart komplett verwandelt. Alles fließt - auch eine Stadt. "Überall stehen Baukräne herum", schrieb der Historiker Otto Borst über Stuttgart. Er meinte nicht das Jahr 2010, sondern 1450.
Der Stadtplaner Professor Gössler hat bereits 1914 ein Modell angefertigt, das Stuttgart im Jahr 1592 zeigt. Es ist im Stadtplanungsamt in der Eberhardstraße 10 im 5. Obergeschoss zu den üblichen Öffnungszeiten zu sehen. Doch auch dieses Stuttgart um 1600 ist nur eine Zwischenstation. Das kann man unschwer erkennen: Die Stadt ist längst über ihren innersten Kern hinausgeströmt. Im Südosten hat sich bis zum Jahr 1400 rund um die Urleonhardskirche die "Esslinger Vorstadt" entwickelt - hier lebten, wie der Historiker Harald Schukraft schreibt, "hauptsächlich Handwerker, wie Wagner, Gerber, Färber und Weingärtner, die die Nähe des Nesenbaches nutzten." Der Bach zieht sich auf dem Modell zwischen Altstadt und Esslinger Vorstadt von links nach rechts.
Befestigungsring um 1600 geschlossen
Im Nordwesten entstand um 1450 "Unserer lieben Frau Vorstadt". Mittelpunkt war ein Dominikanerkloster - die heutige Hospitalkirche. Der Befestigungsring rund um die Stadt war übrigens erst kurz vor 1600 geschlossen worden; erst ab 1563 waren die einfachen Holzpalisaden der nördlichen Vorstadt durch eine Steinmauer ersetzt worden. Davon ist heute kaum mehr etwas erhalten; ein Prunkstück bleibt der Schellenturm im Leonhardsviertel aus gerade jener Zeit um 1560. Östlich der Stiftskirche, wo heute der Schlossplatz und das Neue Schloss den Mittelpunkt Stuttgarts bilden, lagen um 1600 die Renaissancegärten des Herzogs, ein Lusthaus - und sonst nichts.
Etwa 7000 Einwohner hatte Stuttgart im Jahr 1600, heute sind es 80-mal so viele. Doch lassen sich im Häusermeer der Innenstadt einige wenige Gebäude ausmachen, die die Zeitläufte überdauert haben. Es sind gerade sieben Gebäude, sieht man von kleineren Resten ab. Das Alte Schloss gehört dazu, dessen Fundamente sogar auf die Karolingerzeit zurückgehen. Oft umgebaut, hatte es um 1600 schon die Form, die bis heute erhalten ist. Oder vielmehr: die nach dem Krieg wiederaufgebaut wurde. "Alle diese alten Gebäude sind nach 1945 stark umgebaut worden", erzählt Herbert Medek, Stadtplaner und Kenner der Stuttgarter Stadtgeschichte.
Auf historischem Pfad wandeln
Daneben sind es die drei Innenstadtkirchen, die uns heute an das mittelalterliche Stuttgart erinnern: die Stiftskirche, deren heutiges Aussehen zwischen 1463 und 1531 entstanden ist; die Leonhardskirche, deren Langhaus 1474 fertig wurde, die aber nach 1945 nicht originalgetreu wiederaufgebaut wurde; sowie die Hospitalkirche, von der nur der Chorraum erhalten geblieben ist. Auch die Alte Kanzlei, die als Verwaltungssitz diente, stammt aus der Zeit vor 1600. Das siebte Gebäude ist der Fruchtkasten am Schillerplatz: Die Grundmauern gehören ins 14. Jahrhundert, seine heutige Renaissancefassade erhielt es aber erst 1596.
Daneben hat die Innenstadt in Ansätzen etwas bewahrt, das der Flaneur zwar kaum wahrnimmt, das aber doch am ehesten als "Urstuttgart" bezeichnet werden kann: die Struktur der Stadt. Wer heute von der Königstraße her durch den Kanzleibogen zum Schillerplatz geht, der schreitet durch den letzten Überrest eines der drei ersten Stadttore Stuttgarts. Und wenn der Spaziergänger dann an der Stiftskirche vorbei zum Marktplatz schlendert, wandelt er auf historischem Pfad - so schritten die Menschen schon vor 700 Jahren durch ihr Stuttgart. Am 28. März wird die StZ diesen Gang unter kundiger Führung erneut unternehmen. Sie können dabei sein.