Auch Ärzte haben sich mit dem Ebola-Virus in Westafrika infiziert. Der Stuttgarter Arzt Karl Heinz Pfeiffer beschreibt, wie er während eines mehrwöchigen Einsatzes in Sierra Leone in Sorge war, sich angesteckt zu haben.

Serabu - Community Hospital Serabu, 4. Juni 2014, 3 Uhr: Es ist stockfinstere Nacht. Ich renne durch den rauschenden Regen zur Geburtsstation, am Himmel zucken Blitze. Im schwankenden Licht meiner Taschenlampe schlängelt sich der lehmige Trampelpfad durch Buschwerk zu den Krankenhausbaracken. Schon nach wenigen Sekunden hin ich nass bis auf die Haut. Ich habe die Worte des diensthabenden Arztes im Ohr, sein Anruf, fast panisch: „Starke Blutung bei der Geburt, schnell!“

 

Im Kreißsaal ein schon vertrautes Bild: ein kahler Raum, vom Licht einer einzigen Glühbirne notdürftig erhellt, eine Schwangere auf der nackten Pritsche. Um sie herum Schwestern und der Arzt. Die Luft ist stickig, warm und feucht. Die Informationen sind spärlich: die Patientin, 20 Jahre alt, dritte Schwangerschaft, etwa im siebten Monat. Es besteht Lebensgefahr. Nur ein Kaiserschnitt kann das Leben von Mutter und Kind retten.

Sterilität muss zu Gunsten der Schnelligkeit zurücktreten

Der Eingriff wird in fliegender Eile im OP vorgenommen. Die Sterilität muss zu Gunsten der Schnelligkeit zurücktreten, auch die eigene Sicherheit. Ich schaffe es nicht mehr, Gummischürze und -stiefel anzuziehen, im Verlauf des Eingriffs läuft Blut und Fruchtwasser an meinen Beinen hinab. Am Ende der anstrengenden Operation stehe ich erschöpft im OP, im Kopf völlige Leere, und sehe den Schwestern beim Aufwischen der großen Blutlache zu. Ich bin durchnässt von Regen, Schweiß, Blut und Fruchtwasser und habe nur einen Wunsch: eine Dusche! Wie um Himmels willen bin ich bloß hierhergekommen?

Nach 36-jähriger ärztlicher Tätigkeit habe ich im vergangenen Jahr meine Gynäkologenpraxis in Stuttgart an eine Nachfolgerin übergeben und meine Belegarzttätigkeit in der Stuttgarter Klinik Charlottenhaus beendet. Nach unermüdlicher Arbeit im Tag- und Nachtdienst trat plötzlich eine große Stille ein. Unsere drei Kinder hatten das Elternhaus verlassen. Es gab keine beruflichen und privaten Ziele mehr, keine materiellen Wünsche. Ein Gefühl der Leere, der Sinnlosigkeit nahm überhand, ich fühlte mich vom Leben ausgeschlossen. Konnte das schon alles gewesen sein?

Deutsche Fachärzte schulen einheimischen Nachwuchs

Nach reiflicher Betrachtung dessen kam ich zu dem Entschluss, meinen Beruf mit seiner ursprünglichen Zielsetzung in einer ganz anderen Welt fortzuführen. Dabei ging es mir ausschließlich um Hilfe für diejenigen Menschen, die meine Erfahrungen und Fähigkeiten dringend benötigten. Zu diesen anderen zog mich jetzt der Ruf. Ich nahm Kontakt zu den German Doctors, eine Ärztehilfsorganisation, auf.

Nach einer intensiven Vorbereitungszeit wurde ich für einen sechswöchigen Einsatz als Leiter der gynäkologisch-geburtshilflichen Abteilung des Community Hospitals Serabu, Sierra Leone, in Westafrika entsandt. In dieser 125-Betten-Klinik, mitten im Dschungel, wird unter der Federführung der Hilfsorganisation die mittellose Landbevölkerung medizinisch betreut. Dabei findet eine Ausbildungskooperation statt, in der die deutschen Fachärzte den einheimischen medizinischen Nachwuchs so schulen, dass dieser in einigen Jahren den Krankenhausbetrieb in Eigenregie fortführen kann.

Was hier nicht behandelt werden kann, wird nirgendwo mehr behandelt

Das Hospital, am Rande des Ortes gelegen, wurde auf den Trümmern des im Bürgerkrieg (1991–2002) zerstörten ursprünglichen Hospitals errichtet und besteht aus etwa einem Dutzend eingeschossiger, wellblechgedeckter Gebäude. Neben einer Ambulanz verfügt das Krankenhaus über Abteilungen für Innere Medizin, Chirurgie, Pädiatrie, Gynäkologie/Geburtshilfe und Anästhesie sowie eine Apotheke. Die Klinik ist für etwa 50 000 Menschen die letzte Instanz für medizinische Hilfeleistungen. Was hier nicht behandelt werden kann, wird nirgendwo mehr behandelt.

So ist die Frage des Überlebens oder Sterbens der anvertrauten Patienten ausschließlich und unmittelbar abhängig von den Fähigkeiten der wenigen Ärzte vor Ort und ihrer teilweise sehr bescheidenen Ausstattung. Das bedeutet eine große Verantwortung, die mit mitteleuropäischen Verhältnissen nicht vergleichbar ist, wie ich schnell erfuhr.

Die Ebola-Epidemie kam immer näher

Tag für Tag, Nacht für Nacht, sechs Wochen lang, gab es neben operativen Routineeingriffen und Geburten immer auch Fälle, die uns fünf deutsche Ärzte bis zum Äußersten forderten. Starke Blutungen, schwere Infektionen oder bösartige Tumore. Im vollen Bewusstsein der Tatsache, dass unsere Bemühungen manchmal unzulänglich und vielleicht zum Scheitern verurteilt waren, setzten wir im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten alles daran, die Patienten zu heilen, ihre Leben zu retten oder wenigstens ihre Leiden zu lindern. Nicht immer waren wir erfolgreich. Es war schwer zu ertragen, dass manchem Patienten, obwohl behandelbar, nicht geholfen werden konnte, weil elementare Voraussetzungen im Land fehlten.

Die Bevölkerung in der sumpfigen Südprovinz hat unter vielerlei Krankheiten zu leiden: Mangelernährung, Anämie, Parasitenbefall, Infektionen wie Dengue-Fieber, Lassa-Fieber, Tbc, HIV, Typhus und vor allem Malaria. Aktuell wird allerdings all dies überschattet durch die vom Nachbarland Guinea ausgehende, hochgefährliche und sich ausbreitende Ebola-Epidemie. Von Woche zu Woche stiegen die Zahlen der bestätigten Fälle, und diese kamen immer näher.

Der Schock: der Befund war Ebola positiv!

Auf Weisung des Hauptquartiers in Bonn richteten die German Doctors schließlich einen Checkpoint am Krankenhaustor ein, an dem alle, die das Hospital betreten wollten, befragt und gegebenenfalls untersucht wurden, um das Einschleppen der Seuche zu verhindern. Verdachtsfälle waren zu isolieren und zur weiteren Diagnostik in eine spezielle Einrichtung zu verlegen. Dass die Abschirmung nicht lückenlos sein konnte, zum Beispiel bei Patienten in der Inkubationszeit, wurde uns bewusst, als eine von mir betreute Patientin trotz aller Bemühungen an einer ungeklärten Infektion starb. Zwei der Symptome, die sich erst auf der Station entwickelt hatten, erinnerten an eine Ebola-Infektion. Daher waren wir sehr erleichtert, als das Labor in der Provinzhauptstadt den eingeschickten Bluttest als Ebola-negativ klassifizierte. Dann der Schock: am gleichen Tag, ein Freitag, kam abends ein Anruf des Labors, der Befund der verstorbenen Patientin sei doch Ebola-positiv! Bis Montag gab es keine Möglichkeit einer Klärung dieser widersprüchlichen Informationen, weder eine sichere Bestätigung noch ein sicherer Ausschluss der Diagnose.

Die Hebamme Margret und ich hatten den engsten Kontakt zu der Patientin gehabt. Wir hatten ihr bei einer Totgeburt Beistand geleistet und natürlich – nur mit Handschuhen geschützt – ohne Schutzanzug und Atemmaske, auch Kontakt zu Blut und Körpersekreten gehabt. Somit galten wir als unzureichend geschützte Kontaktpersonen mit einem hohen Risiko der Ansteckung.

Die Situation kommt nachts in Albträumen hoch

Für zwei sehr lange Tage waren wir mit der realen Möglichkeit unseres baldigen Todes konfrontiert. Wie geht man mit so einer quälenden Situation um? Margret stellte eine Kerze in der Kirche auf und betete. Ich habe mich vorrangig daran orientiert, dass das klinische Bild der Infektion überwiegend gegen Ebola sprach, und ansonsten meinen Gott um Gelassenheit gebeten in einer Situation, die ich in keiner Weise ändern konnte. Die restlichen Zweifel habe ich verdrängt und mich von der Arbeit ablenken lassen.

Am Montagmorgen dann der erlösende Anruf der Gesundheitsbehörde: es war eine Verwechslung, der positive Befund betraf nicht unsere Patientin! Längst zurück in Stuttgart, kommt diese Situation immer wieder nachts in Albträumen hoch.

Wir würden wiederkommen, wenn man uns braucht

Dieser Einsatz führte uns an unsere körperlichen und seelischen Grenzen und offenbarte dabei unsere Stärken und Schwächen. Unsere Erlebnisse haben uns verändert, weil unsere ehemals naive Sicht auf diese Welt eine andere geworden ist. Es gibt nicht die eine helle Welt, die wir bisher kannten, sondern noch eine ganz andere dunkle Welt dahinter. In dieser wurden wir von unserer mitteleuropäischen Komfortmedizin auf unsere originäre ärztliche Aufgabe zurückgeführt: Leben zu retten! Alle, die wir dort draußen waren, würden wiederkommen, wenn man uns braucht!

Community Hospital Serabu, 4. Juni 2014, 6 Uhr: Ich gehe seltsam euphorisch den Pfad zur Arztunterkunft zurück, noch zwei Stunden bis Dienstbeginn. Ein frischer Wind hat das Unwetter vertrieben. Meine Patientin von heute Nacht wird überleben. Ihr Frühgeborenes vielleicht auch. Ich spüre das Leben pulsieren wie nie zuvor. Es ist in meinen Adern, in dem herrlichen Morgen und in der dramatischen Geburt der Nacht. Endlich wieder empfinde ich dieses Leben als eine alles umfassende Einheit, und ich bin wieder ein Teil davon. Die Frage nach dem Sinn stellt sich nicht mehr.