Seit einem halben Jahr kann in Stuttgart künstliches Heroin auf Krankenschein verordnet werden. In der Praxis des Suchtmediziners Andreas Zsolnai spritzen sich sechs Patienten morgens um acht Uhr gleichzeitig ihre Dosis Diamorphin.

Stuttgart - Um kurz nach acht ist der Vergaberaum voll. Sechs Patienten haben vor sich auf dem Tischchen eine Nierenschale mit Spritze und Pflaster liegen. Die einen schieben sich die Hose ein Stück über die Hüfte nach unten, die Adern in der Leiste sind dick, und damit ist der Einstich einfacher zu setzen. Andere stauen sich das Blut im Arm, damit die Vene hervortritt. Keiner redet, alle sind beschäftigt, sich den morgendlichen Schuss auf Rezept zu verschaffen. Es ist Diamorphinausgabe in der suchtmedizinischen Schwerpunktpraxis von Andreas Zsolnai.

 

Die drogenabhängigen Patienten injizieren sich das künstliche Heroin selbst – unter ärztlicher Aufsicht. „Wir beobachten die Patienten zehn Minuten, danach können sie gehen“, sagt Zsolnai. Geordnetes Spritzensetzen mit sauberen Nadeln statt blutiges Stochern in vernarbten Venen. Seit Juli können in Stuttgart schwerstdrogenabhängige Menschen das industriell gefertigte Heroin ärztlich verordnet bekommen. Die Sicherheitsvorkehrungen in der Suchthilfepraxis in der Kriegsbergstraße 40 sind hoch. Das Diamorphin ist in einem Tresor gelagert. Der wiederum steht in einem Raum mit Panzerglas, überwacht von einer Videokamera, einer Wärmebildkamera und zusätzlich gesichert durch einen direkten Notruf zur Polizei.

Besessen von dem nächsten Schuss

In einer Ecke des Vergaberaums sitzt Jorgos Apollo (Name geändert), sein Gesichtsausdruck ist abwesend. Die Sicherheitsmaßnahmen interessieren ihn nicht. Ihn interessiert das „Gefühl der Wärme“, das ihm die Droge verschafft. Nach der Injektion regt sich der kräftige Mann minutenlang kaum, dann steht er auf, gibt die gebrauchte Spritze auf der Schale zurück und verlässt den Raum. Angesprochen auf das Diamorphinprogramm ist der 41 Jahre alte Grieche in seiner Begeisterung kaum zu bremsen: „Ohne wäre ich vielleicht nicht mehr am Leben.“ 15 Jahre lang hat sich Apollo Heroin gespritzt, „dreckigen Stoff, gemischt vielleicht mit Rattengift“. Der gelernte Autolackierer hat das Geld seiner Eltern durchgebracht, das für den Enkel gedachte Sparbuch abgeräumt, den Schmuck der Familie verscherbelt und seine Autowerkstatt in den Sand gesetzt: „Ich war besessen von einem Gedanken: Wie komme ich zum nächsten Schuss?“

Der gesetzliche Rahmen ist eng gefasst. Ins Diamorphinprogramm kommt nur, wer mindestens 23 Jahre alt und seit Jahren schwerstdrogenabhängig ist, wer erfolglose Therapien hinter sich hat und körperlich oder psychisch krank ist. „Die Leute bringen handgeschriebene Lebensläufe und Empfehlungen von Kollegen mit, sie verhalten sich wie bei einer Bewerbung“, erzählt Zsolnai. 28 Patienten hat der Suchtmediziner in das Diamorphinprogramm aufgenommen, 50 Plätze sind vom Regierungspräsidium genehmigt.

Die Sicherheitsstandards sind sehr hoch

Nicht nur die Sicherheitsstandards sind hoch, auch sonst sind hohe Hürden aufgebaut. Der Suchtmediziner entscheidet nicht allein, wem er das synthetische Heroin verordnen darf, eine Qualitätssicherungskommission der Kassenärztlichen Vereinigung muss jeden Fall genehmigen. Jorgos Apollo hat Entgiftungen gemacht, Therapien wieder abgebrochen, sich im Gefängnis schweißgebadet durch kalten Entzug gequält. Am Ende aber hat er doch wieder seinen Dealer angerufen und Drogen verkauft, um an Geld zu kommen.

„Seit ich das Diamorphin bekomme, habe ich mich nur einmal bei ihm gemeldet. Gleich am ersten Abend, aus Gewohnheit, danach nicht mehr. Warum soll ich mir das dreckige Zeug reinziehen?“ Der 41-Jährige ist dankbar für die tägliche Verordnung und kann sein Glück kaum fassen. „Ich träume jede Nacht, dass der Arzt nicht mehr da ist, und wache panisch auf.“ Tagsüber aber ist er so aufgeräumt wie lange nicht. Er schafft es, seine Wohnung sauber zu halten, einzukaufen, zu kochen. „Ich habe keine Angst mehr, die Türe aufzumachen, weil die Polizei davor stehen könnte.“

Sozialbürgermeisterin Fezer sieht Stuttgart als Vorreiter

Stuttgarts Sozialbürgermeisterin Isabel Fezer (FDP) spricht von einem „wichtigen Angebot“ und sieht Stuttgart bundesweit als Vorreiter, weil in dem Gebäude in der Kriegsbergstraße nicht nur die Arztpraxis, sondern ein Stockwerk tiefer auch die Drogenberatungsstelle von Release untergebracht ist. Ihr erklärtes politisches Ziel ist, in dem Haus auch noch eine Arbeitsmöglichkeit für die Drogenabhängigen einzurichten: „Die Menschen brauchen tagesstrukturierende Angebote.“

Der Suchtmediziner Zsolnai hat noch ganz andere Erwartungen an die Politik. Er hofft darauf, dass irgendwann auch Diamorphin in Tablettenform frei gegeben wird: „Es gibt viele Klienten, für die eine Injektion nicht in Frage kommt, die aber mit Diamorphin besser auskommen würden als mit Methadon.“ Und er fordert eine Senkung des Alters: „Ich behandle eine 22-Jährige, bei der ich nicht weiß, ob sie das 23. Lebensjahr erleben wird. Ich bin überzeugt, sie mit Diamorphin stabilisieren zu können.“ Der Drogenberater Uwe Collmar wiederum setzt sich für eine Entkriminalisierung der Suchtmediziner ein: „Wenn ein Patient an seinem Beikonsum stirbt und der Arzt seine Behandlung nicht lückenlos dokumentiert hat, muss er mit staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen rechnen.“

Primäres Ziel: die Patienten stabilisieren

Der Hartz-IV-Empfänger Jorgos Apollo kramt unterdessen seinen Geldbeutel heraus und hält fünf Euro hoch. „Die fünf Euro, die ich jetzt habe, sind mehr wert als tausend Euro noch vor einem Jahr, als ich alles Geld sofort in Heroin umgesetzt habe“, sagt er. Der Grieche denkt erstmals nach 15 Jahren wieder darüber nach, zu arbeiten. Ob er auch an Abstinenz denkt?

Jorgos Apollo schüttelt den Kopf. Und der Suchtmediziner Andreas Zsolnai macht klar: „Man kann das Gehirn nach Jahren schwerster Sucht nicht einfach entwöhnen.“ Primäres Ziel sei, die gesundheitlich stark angeschlagenen Patienten zu stabilisieren und sie aus der Illegalität zu holen. „Mit Diamorphin sind viele Patienten arbeitsfähig“, so der Arzt. Schon das sei ein großer Schritt. Drei Patienten aber seien bereits aus dem Diamorphinprogramm ausgestiegen und inzwischen clean. „Der Entzug ist einfacher als bei Methadon“, sagt Andreas Zsolnai, warnt aber zugleich vor zu hohen Erwartungen.