Der Stuttgarter Eberhard Wilms hat den Volksaufstand in der ehemaligen DDR als 13-Jähriger in Dresden miterlebt. Das Ereignis hat sein Leben geprägt.

Stuttgart/Dresden - Das Kanonenrohr auf dem Dresdener Platz bedroht die Passanten wie der ausgestreckte Arm eines Ungeheuers. Eberhard Wilms verlässt am 17. Juni 1953 sein Internat, um nach dem Unterricht in die Stadt zu gehen. Unter der Woche lebt der Dreizehnjährige in Dresden. Er ist Sänger im berühmten Kreuzchor der Stadt, dem Pendant zu den Leipziger Thomanern. Wenige Schritte vom Internat entfernt auf dem zentralen Dresdner Platz sieht er, wie das Geschütz eines sowjetischen Panzers auf die Passanten zielt. Eberhard Wilms spürt, wie Angst in ihm hochsteigt. Offenbar nicht nur in ihm, denn um ihn herum schauen die Dresdner bedrückt zu Boden. Sie haben die Botschaft der Sowjets verstanden.

 

Am Abend vor dem 17. Juni 1953 bekommt der Jugendliche zum ersten Mal mit, dass in Berlin etwas passiert ist. Was genau, weiß er nicht, und um Politik macht sich kein Dreizehnjähriger mehr Gedanken als nötig. Als er die Panzer in den Straßen sieht, muss er an die Gerüchte denken. Sie sind also wahr, und mit den Panzern und den sowjetischen Soldaten ist die Angst in seiner Heimatstadt eingerückt.

Sechzig Jahre später sitzt Eberhard Wilms auf einem Sofa in seiner Wohnung im Stuttgarter Osten. Er ist ein freundlicher Mann, der Hochdeutsch spricht, allerdings mit einem leichten sächsischen Akzent. „Dabei bin ich doch in Königsberg geboren worden“, sagt er und lacht.

Im Jahr 1958 flüchtet Wilms über Berlin in den Westen

Wilms Biografie ist so zerrissen wie exemplarisch für die Deutschen des 20. Jahrhunderts. 1940 wurde er in Ostpreußen geboren, ein Jahr vor Hitlers Angriffskrieg gegen die Sowjetunion. Gegen Ende des Kriegsfiaskos muss seine Familie vor den Sowjets fliehen. Doch am Ende holen die Russen die Familie ein, denn diese strandet in der russischen Besatzungszone, also der späteren DDR.

1958, als es gerade noch möglich war, nutzt Wilms das Nadelöhr Berlin für die Flucht in den Westen. Die Familie bleibt zurück, ein Teil arrangiert sich nicht nur mit dem SED-Regime, sondern wird selbst Teil von ihm. Eberhard Wilms zieht dagegen ins Schwäbische und wird Westdeutscher aus Überzeugung.

Nach der Wende holen ihn die Erinnerungen an die Jugend unter der Herrschaft der SED wieder ein. Er engagiert sich für die Aufarbeitung der kommunistischen Verbrechen, kämpft gegen das Vergessen der zweiten totalitären Erfahrung der Deutschen. Sie ist gleichwohl erlebter Teil der Geschichte nur der Ostdeutschen. Von Stuttgart aus betrachtet lag New York über Jahrzehnte zumindest gefühlt näher als Ostberlin. Wilms hat jahrzehntelang an einem Gymnasium unterrichtet, er weiß, wie schwer die Westdeutschen sich damit tun, das Phänomen „DDR“ zu begreifen. Je jünger die Menschen seien, desto fremder erscheine ihnen die Geschichte der zweiten deutschen Diktatur, sagt er. „Das ist übrigens auch bei der jungen Generation im Osten der Fall“, sagt Eberhard Wilms.

Wilms Vater träumt schon von einem besseren Land

Am Abend des 17. Juni beginnen einige Dresdner davon zu träumen, dass die Diktatur bald nur noch Geschichte ist. Eberhard Wilms verlässt die vor Unruhe und Gerüchten brodelnde Innenstadt und fährt zu seinen Eltern in den beschaulichen Vorort Hellerau. Die Familie nutzt die laue Sommerluft für einen Spaziergang. Von den Demonstrationen in der Stadt, ja im ganzen Land hat der Westrundfunk berichtet. Der Vater habe ihn stets gehört, mit den Ohren am Gerät, sagt Wilms. „So hat er es auch während der Nazizeit gemacht, als er dafür seinen Kopf riskiert hat“, sagt Wilms.

Beim Spaziergang fragt der Vater, was jetzt wohl mit den „Roten“ passiere, erinnert sich Wilms. Es klingt nach der Überzeugung, dass die Sowjets Ostdeutschland freigeben und die kommunistische Diktatur ohne den schwer bewaffneten Begleitschutz aus Moskau kollabieren werde.

Während Wilms die Stimmung der Dresdner in der Innenstadt im Angesicht der Panzer als bedrückt erlebt hat, scheint sein Vater nur wenige Kilometer entfernt voller Hoffnungen gewesen zu sein. Zu vermuten ist, dass der Westrundfunk, dem Geist des Kalten Krieges entsprechend, die Lage für die Sowjets so schwierig wie möglich dargestellt hat.

An jenem Tag wurde Eberhard Wilms zu einem Regimegegner

Denn in Wahrheit lag der Aufstand schon am Boden, bevor er zur Revolution werden konnte, zermalmt unter den Panzerketten der Sowjets und den Stiefeln der Kasernierten Volkspolizei. Es war von Anfang an ein ungleicher Kampf zwischen den Arbeitern und der zu allem entschlossenen „Arbeiter- und Bauern-Regierung“. Die Normerhöhungen, gegen die sich die Proteste zuvorderst richteten und mit denen man nach dem Motto mehr Arbeit für gleichen Lohn alles herauspressen wollte aus den Betrieben, wurden zwar zurückgezogen. Doch der Protest, der auch mehr politische Freiheit einforderte, wurde am 17. und 18. Juni mit Gewalt beendet. Nach Schätzungen von Historikern starben 55 Menschen bei der Niederschlagung des Aufstands.

Eberhard Wilms hat die Konfrontation mit dem Panzer auf dem Platz in Dresden nie vergessen. Letztlich wurde an diesem Tag aus einem unpolitischen Dreizehnjährigen ein Regimegegner. „Ich habe mich plötzlich gefragt, was für ein Land das ist, in dem Panzer auffahren, wenn Menschen Forderungen an die Regierung stellen“, sagt er. In einem solchen Land wollte Wilms nicht leben. Heute gibt es die DDR nicht mehr, und das ist für Eberhard Wilms eine Genugtuung. Die Erinnerung an die zweite deutsche Diktatur müsse aber wachgehalten werden als Gegengift gegen alle Bedrohungen der Demokratie, sagt Wilms und denkt an Diskussionen über die innere Sicherheit. „Bei Polizeieinsätzen gegen Demonstranten wie jüngst in Frankfurt halte ich das rechte Augenmaß für sehr wichtig“, sagt Eberhard Wilms. Nur all zu gut weiß Wilms, dass der Zweck eben nicht die Mittel heiligt, wie es die Beglücker der Arbeiterklasse vorgelebt haben.

Der 17. Juni ist für Eberhard Wilms aber auch ein herausragendes Beispiel für Zivilcourage. „Das waren einfache Arbeiter, die wussten, dass es so nicht weitergehen kann und die sich dann spontan erhoben haben“, sagt er. Der Mut von damals verdiene deshalb großen Respekt, sagt Wilms. Vielleicht sogar gerade heute.