Seit 2010 gibt es in der Kinderklinik ein interdisziplinäres Kinderschutzteam. 175 Jungen und Mädchen hat das Team im Jahr 2012 insgesamt betreut. Ein solches Projekt ist bundesweit einmalig.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Als ein vier Monate altes Kind mit einem Harnweginfekt im Olgäle aufgenommen wird, merken die Kinderkrankenschwestern auf der Station schnell, dass etwas nicht stimmt. Die Hautfalten sind unsauber, nicht entfernte Kotreste haben die empfindliche Haut angegriffen. Auch die Mutter verhält sich ungewöhnlich: Sie geht während der Aufnahme ihres Kindes aus dem Raum und ist zunächst nicht aufzufinden. Sie muss aufgefordert werden, sich um ihr Baby zu kümmern und weiß nicht, wie sie es beruhigen soll. Die Station meldet sich daraufhin beim Kinderschutzteam aus dem Olgäle.

 

Dieses multidisziplinäre Team ist seit Oktober 2010 an der Kinderklinik fest installiert: In Deutschland sei dies ein einmaliges Projekt, betont der Ärztliche Direktor des Sozialpädiatrischen Zentrums am Olgahospital, Andreas Oberle. Er leitet das Kinderschutzteam gemeinsam mit Regina Quapp-Politz, der für Familien zuständigen Abteilungsleiterin vom Jugendamt. Das Jugendamt, auch das ist ungewöhnlich, finanziert vier volle Stellen, die sich auf einen Kinderarzt, eine Familien- und Kinderkrankenpflegerin und mehrere Sozialpädagogen verteilen. Das Team wird immer dann zurate gezogen, wenn auf Station bemerkt wird, dass das Kindeswohl gefährdet sein könnte. Dabei gehe es gar nicht unbedingt um die ganz dramatischen Fälle. „Es geht um die Stufen davor“, erklärt Oberle. Ihnen sei wichtig, rechtzeitig zu helfen, damit Familiensysteme nicht kippten.

Kinder unter zwei Jahren besonders gefährdet

Studien hätten ergeben, dass etwa drei Prozent aller Kinder, die in einer Kinderklinik betreut werden, von Missbrauch oder Vernachlässigung betroffen sind. Andreas Oberle hält es deshalb für genau richtig, dass das Kinderschutzteam ausgerechnet an der Kinderklinik angesiedelt ist. Schließlich laufen dort auch Fälle auf, von denen das Jugendamt sonst vielleicht gar nicht oder erst viel später erfahren würde. Die Hälfte der vom Kinderschutzteam betreuten Kinder sei unter zwei Jahre alt – wie eben das dokumentierte Baby mit dem Harnweginfekt. 175 Jungen und Mädchen hat das Kinderschutzteam im Jahr 2012 insgesamt betreut. Im ersten halben Jahr 2013 sind es 85 Fälle gewesen.

Dass die Kinder vernachlässigt, nicht richtig gepflegt würden und nicht die emotionale Förderung bekämen, die sie bräuchten, seien die Hauptprobleme, so Oberle. Die Eltern stammten zudem aus allen Schichten. Teilweise hatten die Familien auch schon Kontakt zum Jugendamt. In 25 Fällen habe man die Familien an die entsprechenden Dienste vermittelt, damit sie weitere Unterstützung bekommen, berichtet Regina Quapp-Politz.

„Kein Kind wird ohne Schutzkonzept entlassen“

Es ist ein sensibles Feld, in dem sich das Team bewegt: Schließlich tun sich regelmäßig Kleinkinder unbeabsichtigt weh. Was ist noch normal, was nicht? „Bei kleinen Kindern kommt es darauf an, ob die Erklärung glaubwürdig ist: Wenn ein Kind vom Sofa fällt, bricht es sich nicht das Bein“, erklärt Regina Quapp-Politz. Tatsächlich erhärtet sich aber manchmal der erste Verdacht nicht. Der Jugendamtsstatistik zufolge war das Team 2012 „nur“ bei 34 Fällen sicher, dass das Kindeswohl gefährdet ist, bei 49 Fällen sei dies „nicht ausgeschlossen“ gewesen. Auch die Familien seien begleitet worden, bei denen sich die Situation unklar war und sich nicht ganz aufklären ließ. „Kein Kind wird ohne Schutzkonzept entlassen“, betont Regina Quapp-Politz.

Erstaunlich offen begegnen die Eltern dem Kinderschutzteam. Die Mehrheit soll sich kooperativ verhalten. Die beiden Projektleiter machen das behutsame Vorgehen des Teams dafür verantwortlich. „Es ist wichtig, dass die Eltern merken, dass man sie ernst nimmt“, sagt der Kinder- und Jugendarzt Andreas Oberle, der darüber hinaus systemischer Familientherapeut ist.

Das Team gehe sehr verständnisvoll vor und komme nicht gleich mit Vorwürfen, sagt Regina Quapp-Politz. Man achte darauf, dass eine Sprache ohne Zurückweisung verwendet werde. „Die Eltern sollen keine Angst bekommen, dass ihnen das Kind weggenommen wird“, erklärt die Abteilungsleiterin. Zu diesem Schritt werde ohnehin nur äußerst selten gegriffen (siehe „Viele Eltern melden sich selbst“).

Krankenkassen zahlen nicht im Fall von Missbrauch

Schwierig sei es, verlässliche Daten aus den Kinderkliniken über körperliche und sexuelle Gewalt zu bekommen. So sei von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Weil die Krankenkassen bisher zumindest in diesen Fällen nicht für die Behandlung zahlen, wird die Diagnose von Ärzten aus Rücksicht oft nicht so aufgeschrieben, um die Familien nicht auch noch in finanzielle Probleme zu stürzen. „Wir haben aber ein Interesse daran, zu guten Zahlen zu kommen“, sagt die Jugendamtsexpertin.