Jan Bosse hat Kleists „Zerbrochnen Krug“ als gallige Mischung aus Provinzposse, Sat-1-Gerichtsshow und Gesellschaftssatire inszeniert. Am Stuttgarter Schauspiel beeindruckt das Stück vor allem auch durch die exzellenten Darsteller.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Im Programmheft steht auf Seite 2 unten „Programmheft Nr. 12“. Das ist eigentlich unfassbar. Gerade mal vor fünf Wochen ist das neue Stuttgarter Staatsschauspiel unter seinem Chef Armin Petras gestartet – und fünf Wochen später kommt schon die zwölfte Premiere auf die Bühne. Woher nimmt diese Mannschaft so viel Energie?

 

Nun gut, bei der Mehrheit der zwölf neuen Stücke handelt es sich um Übernahmen; Armin Petras schüttet sozusagen einen Nikolaussack voll erfolgreicher Inszenierungen aus seinem früheren Theaterleben im Berliner Gorki-Theater am Stuttgarter Eckensee aus; so auch jetzt Heinrich von Kleists „Zerbrochnen Krug“, den der Regisseur Jan Bosse wiederum bereits im Jahr 2006 am Schauspielhaus in Zürich herausgebracht hatte. Wenn man so will, ist das alles schon gut eingespielt.

Aber es muss doch andererseits erst mal auf die Stuttgarter Bühne übertragen und dort zum Teil mit neuen Schauspielern eingerichtet werden. Das Ergebnis auch im Falle Kleist ist wieder formidabel: Bosses Sicht auf eine der abgründigsten Komödien der Literatur hat über die Jahre keinerlei Perückenstaub angesetzt. Was wir da in gut zwei Stunden auf der Bühne sehen (mit einem spektakulären Vorspiel im Foyer), diese Mischung aus galliger Provinzposse, Sat-1-Gerichtsshow und Rechts-, nein: Gesellschaftssatire, das hält in seinem großen Respekt vor der kunstvollen Kleist-Sprache dem Hier und Jetzt einen Spiegel vor – es hängt tatsächlich einer hinten an der Bühnenwand, „Einigkeit, Freiheit, Brüderlichkeit, Sicherheit“ steht verschnörkelt auf dem Rahmen. So kann sich das Publikum beim Lachen zusehen – und verpasst mithin auch jene kostbaren Momente nicht, in denen allen das Lachen im Halse stecken bleibt.

Frappierend ist die schauspielerische Qualität

Mehr wollen wir zur Abwechslung gar nicht über diese Inszenierung sagen; letztlich war das alles auch in diesem Blatt schon zu lesen. Nutzen wir lieber die Gelegenheit, um über das neue Ensemble zu schreiben. Jeder, der in den vergangenen fünf Wochen schon eine Vorstellung im Schauspielhaus oder im „Nord“ besucht hat, wird es bemerkt haben: Man kann zu den Inszenierungen diese oder jene Meinung haben, ganz unabhängig davon und frappierend ist aber die schauspielerische Qualität, die wir in Stuttgart unter neuer Leitung erleben dürfen. Das muss jetzt mal gesagt werden.

Wo sollen wir anfangen? Zur Abwechslung ganz hinten: Katharina Knap. Eine junge Schauspielerin, Petras hat sie vom Wiener Burgtheater geholt. Wenn sie als Frau Brigitte auf die Bühne kommt, haben die Zuschauer schon anderthalb Stunden Verhandlung hinter sich, mit all den absurden geistigen Verrenkungen des Dorfrichters Adam, um ja seine eigene Schuld am nächtlichen Malheur auf andere zu schieben. Just da muss Frau Brigitte nun Ruhe ins Spiel und eine ganz neue Sicht auf die Vorgänge bringen, muss allen Ernstes von Teufelsspuren und Schwefeldampf erzählen, und das macht Katharina Knap zum Niederknien gut, unglaublich präsent, sprachlich exakt und schlau zum Höhepunkt gesteigert.

Dann Svenja Liesau, noch jünger als Katharina Knap. Ihre Eve kann sich ein Leben ohne Kaugummi im Mund nicht mehr vorstellen. Bisschen genervt, die Kleine, bisschen nervig auch. Und prompt kommen zum Schluss drei unendlich kostbare Theaterminuten, in der sie stockend, zitternd, weinend schildert, was ihr in jener Nacht vom eigentlichen Teufel des Dorfes angetan wurde, und das ist ja nun wirklich keine Komödie gewesen, das war bitterer Ernst, das war Erpressung, Missbrauch, Gewalt. Kein Mucks ist da im Publikum zu hören. Atemlose Spannung. Großartig!

Hart an der Grenze

Matti Krause – ebenfalls neu im Ensemble. Auf den ersten Blick so ein typisches Kraftpaket, wie es jedes Theaterensemble dieser Welt für die einschlägigen Rollen bereithalten muss. Er spielt den ursprünglich beschuldigten Ruprecht – und spielt ihn mit großem Mut hart an der Grenze zur RTL-Nachmittags-Reality-Soap, aber dann doch wieder verletzt, unsicher, verzweifelt. Noch ein Volltreffer. Das bringt prompt jene Dynamik auf die Bühne, die auch Boris Burgstaller, den die Stuttgarter ja schon lange kennen, als Veit zu einem kraftvollen Auftritt als fassungsloser Vater mitreißt.

Ronald Kukulies: ein Albtraum! Genauer: als Schreiber Licht ein auf der Bühne lebendig gewordener Albtraum an Verschlagenheit, Schleimigkeit, Intrigantentum, Sesselfurzig- und Dumpfbackigkeit. Hier wartet einer geduldig auf seine ganz große Chance. Kukulies versteht das. Wir zittern. Dann: Franziska Walser. Sie spielt die Marthe mit ihrer Krugscherbensammlung in der Handtasche wie eine jener Frauen in reifen Jahren, die sich penetrant kleiden und gerieren, als seien sie immer noch so jung und knackig wie die eigene, längst erwachsene Tochter. Umso erstaunlicher Walsers fast distinguierter Auftritt, der dann die Hysterie dieser Figur viel deutlicher macht als jeder hysterische Anfall.

Jean-Pierre Cornu ist der Gerichtsrat Walter. Reisende Theaterfreunde kennen den Schweizer Cornu aus herrlichen Inszenierungen Christoph Marthalers. Er ist ein Phänomen, schon an und für sich ein Bühnenereignis. Nun ist Cornu einfach so Ensemblegast in Stuttgart. Mit welcher Gestik und Mimik, mit welcher Verschrobenheit und mit welchem Witz er hier als Gerichtsrat seiner wachsenden Fassungslosigkeit über die Zustände in der niederländischen Provinz zum Ausdruck verhilft – schlicht Wahnsinn. Wegen solcher Darsteller stehen übrigens Menschen an den Abendkassen überall in der Theaterwelt Schlange – zu Recht.

Edgar Selge nimmt mit

Und klar, wegen Edgar Selge stehen sie auch Schlange. Was soll man zu dieser Schauspiel-Champions-League noch schreiben? Woher Selge die Inspiration und Kraft schöpft, dieser eigentlich so unsympathischen Figur des Dorfrichters Adam dann doch jene Differenzierung, auch jenen Witz zu geben, die wirkungsvoll nötigen, uns bei aller Abscheu vor Adams Schandtaten mit seiner Verzweiflung zu identifizieren, das müssen wir nicht wissen und das muss er uns auch nicht verraten, das kann er eben. Festzuhalten bleibt: nur ein solches Spiel macht den „Zerbrochnen Krug“ als Stück interessant. Nicht das gemütliche, selbstgefällige Zusehen im Parkett, wie ein Übeltäter Stück für Stück entlarvt wird, sondern unser stilles, vorm Nachbarn verborgenes Erschrecken: und was, wenn ich dort oben säße? Selge ist kein schöner Schauspielheld zum Bewundern und Anschmachten. Selge nimmt mit.

Summa summarum ein herausragendes Ensemble in einer turbulenten, schlauen, geistreichen Inszenierung. Schauspielkunst und Regieentwurf in einer Einheit, wie sie ganz sicher nicht jedem sofort einleuchten oder gar gefallen muss. Die aber in jedem Fall jede Menge Gesprächsstoff bietet. Nach einer solchen Vorstellung brummt und summt und rauscht und klingt und klappert es noch lang im Foyer des Stuttgarter Schauspielhauses, und manchmal gehen vor lauter Begeisterung Rotweingläser zu Bruch, was dann dem Schuldigen sehr peinlich ist. Aber hier ist ein Theaterbau nach langer Bauzeit wieder zum Leben erwacht. Er strotzt vor Energie.