Der Südamerika-Korrespondent Wolfgang Kunath schildert bei „StZ im Gespräch“, wie er in Rio zum Sportsfreund wurde und analysiert die Krisen Brasiliens. Die linke Regierung habe Entwicklungsprojekte „mit der Brechstange“ durchgesetzt

Stuttgart - Natürlich ging es um die Krisen Brasiliens, als Wolfgang Kunath, seit 14 Jahren Korrespondent der Stuttgarter Zeitung in Rio de Janeiro, am Donnerstagabend im Pressehaus in Stuttgart-Möhringen vor 150 Leserinnen und Lesern sprach. Allen voran ist da die Suspendierung der linksliberalen Präsidentin Dilma Rousseff. Wie hätte die Nachfolgerin des charismatischen Lula da Silva – des „Magiers der Massen“, wie Kunath sagt, – ihrem Schicksal ausweichen können, fragte Michael Maurer, stellvertretender StZ-Chefredakteur und Moderator des Abends. Zum einen sieht Kunath hier keinen Putsch am Werke, die Absetzung sei „nicht undemokratisch“ verlaufen. Zum anderen könnte man Vorwürfe wie sie gegen Rousseff erhoben werden, Haushalte manipuliert zu haben, auch den Vorgängerregierungen oder noch von Konservativen geführten Landesregierungen in Brasilien machen.

 

Korruptionsskandale sind Brandbeschleuniger

Kunath sieht den riesigen Petrobas-Korruptionsskandal als „Brandbeschleuniger“ der Staatskrise, er sieht aber auch Strukturprobleme im Lande als Ursache der politischen Unruhe. So seien die meisten der 35 Parteien im Parlament nur an „Posten und Pfründen“ interessiert. Als Beispiel nannte er die PMDB, die oft als Mehrheitsbeschaffer diente, sich aber als weder links, Mitte oder rechts bezeichnet, sondern „standpunktlos“ sei. Solange dies so sei und die Ämterjagd nicht durch eine Parteireform gezügelt werde, hätte Dilma Rousseff eigentlich nur durch geschickte Postenvergabe ihre Macht retten können.

Mit Rousseff ist erneut ein linkes Projekt in Südamerika gescheitert, wie in Venezuela, Ecuador, Bolivien und weiteren Staaten. Aber wo liegt der Webfehler in all den Projekten, wollte Michael Maurer wissen. Die Linksregierungen hätten ihre Chance gehabt, sagt Kunath. Wegen der Rohstoffe seien Mittel verfügbar gewesen für eine andere Politik, doch statt nachhaltige Sozialreformen umzusetzen sei den Leuten beispielsweise in Venezuela „Geld in die Hand gedrückt“ worden. Gute Pläne für Volksbildungs- oder Gesundheitsprojekte seien „schlecht durchgesetzt“ worden. Auch das Bildungssystem etwa in Brasilien krankt. Kaufe er in Rio etwas für einen 1,80 Real und zahle mit zwei Real, brauche „das Mädchen am Kiosk“ einen Taschenrechner, um das Wechselgeld auszurechnen. „Da könnte ich die Decke hochgehen“, sagt Kunath, nicht wegen der Verkäuferin, sondern wegen des Schulsystems.

Mit der Wirtschaft geht es bergab

Seit Jahren geht es in Brasiliens Wirtschaft steil bergab, das Wirtschaftswachstum sank 2014 um vier Prozent. Jetzt liegt die Arbeitslosigkeit bei zehn Prozent, die Inflation ebenfalls – und das trifft die Bevölkerung empfindlich. Ein Liter Milch koste etwa doppelt soviel wie in Deutschland, aber wie solle man da klar kommen, bei einem Mindestlohn von 200 Euro? Es war aber nicht die Unterschicht, die bei den großen Protesten 2013 auf die Straße gingen, den größten seit dem Ende der Militärdiktatur 1985, es war vor allem der Mittelstand. Sowohl das obere als das untere Drittel der Brasilianer habe von den Jahren der Linksregierung profitiert. „Die Mittelklasse aber hat das Gefühl, sie sei nicht mitgenommen worden im Aufschwung unter Lula.“ Drei Vertreter des demonstrierenden Mittelstandes hat Kunath einmal porträtiert: einen Studenten, einen Maurer-Polier und einen Immobilienmakler – eigentlich nicht die typischen Straßenprotestler. Diese Mittelklasse aber wolle so leben wie in Europa, wenigstens so wie in Portugal.

Vom Publikum – erstaunlich viele Brasilienkenner waren dabei – ist Kunath nach dem Raubbau am Amazonas gefragt worden. Auch die „Linke“ Rousseff habe Nationalparks verkleinert und Entwicklungsprojekte „mit der Brechstange“ durchgezogen, etwa das ökologisch und sozial dubiose Wasserkraftwerk Belo Monte – das einmal das drittgrößte der Erde werden soll. Vergangene Woche noch habe Rousseff die ersten Turbinen eingeweiht.

Der Abschied von Rio werde „zartbitter“, sagt Kunath

In der angeblich sanften brasilianischen Gesellschaft, die Herzlichkeit und freundlichen Umgang pflege, werde mit „harten Bandagen“ gekämpft, sagt Kunath. Das zeigt sich im politischen Umgang oder der Kriminalität, die in den Megastädten sinkt und in Mittelstädten wächst. Aber auch im Strafvollzug, von dem selbst der Justizminister sagte, die Zustände dort seien die Hölle auf Erden. Als internationale Presse habe man alle Freiheiten, aber die Helden des Journalismus seien für ihn „Radio-Reporter in einer Kleinstadt, die die korrupten Machenschaften des Bürgermeisters aufklären“. Das sei lebensgefährlich.

Eigentlich kein Fan von Sportereignissen hat sich Wolfgang Kunath vom Fußballfieber bei der WM in Brasilien anstecken lassen. Es sei eine Binsenweisheit, aber im Fußball spiegele sich die Seele der Brasilianer: „2013 und 2014 waren meine schönsten Jahre in Rio.“ Nach den Olympischen Spielen wird Kunath in den Ruhestand gehen, „zartbitter“ werde der Abschied. Dass die Sommerspiele gut klappen, davon ist Kunath überzeugt, die Sportstätten seien fast fertig. Noch sei Olympia den Brasilianern „Wurst“, das könne sich ändern. Und was ist mit der verdreckten Guanabara-Bucht, wo die Segler antreten sollen? Kunath: „Das Problem ist politisch ausgesessen worden. Wenn nicht gerade ein Türblatt oder eine tote Kuh ins Bild schwimmt, ist die Bucht ja durchaus malerisch.“