Bei der Entwicklung von Stadtquartieren dient die alteuropäische Stadt wieder als Vorbild. Sie ist multifunktional und verbindet Wohnen und Arbeiten, mit ihrer dichten Bebauung passt sie gut zu ökologischen Energiekonzepten von heute.

Lokales: Mathias Bury (ury)

Stuttgart - Die Stadt der Zukunft muss gar nicht erfunden werden, es gibt sie schon. Die Vorträge am zweiten Tag des Kongresses „Stadt der Zukunft – Zukunft der Stadt“ waren allesamt auch eine Hommage an die alteuropäische Stadt mit ihrer langen, bis zur Polis im antiken Griechenland zurückreichenden Geschichte. Neben der multifunktionalen Nutzung und der eher kleinräumigen Gestaltung ist es insbesondere die demokratische Tradition der europäischen Stadt, die sie zum Zukunftsmodell vieler Stadtplaner macht.

 

Die frühere Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth (CDU) eröffnete die Reihe der Referate zum Thema „Das Stadtquartier der Zukunft“ mit einem Plädoyer, sich angesichts der Herausforderungen durch die Globalisierung auf die europäische Kultur des Städtebaus zu besinnen. „Die Megacitys in Asien sind keine Antwort auf die Bevölkerungsexplosion“, setzte Roth hochfliegend an, um sogleich wieder bei den hiesigen Verhältnissen zu landen. Für zentral hält die ehemalige Städtetagspräsidentin, dass die Kommunalpolitiker heute das Thema Städtebau wieder selbstbewusster angehen und gestalten. Anders als noch vor Jahrzehnten aber müssten die Bürger in die Entwicklungsprozesse eng und „kooperativ“ eingebunden werden.

Eine Stadt, die dafür bekannt ist, dass sie die Bürger in die Planung einbezieht und privaten Baugemeinschaften bei der Entwicklung von Quartieren viele Freiräume lässt, ist Tübingen. Baubürgermeister Cord Soehlke stellte das Modell vor, das Vielfalt statt Monotonie in der Architektur wie in der Verbindung von Wohnen und Arbeiten fördert. Dass Quartiere wie das Französische Viertel, das Leroto-Areal oder das Mühlenviertel entstehen, ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass die Grundstücke in kleinen Parzellen und zu einem nicht subventionierten Festpreis veräußert werden. Den Zuschlag erhalten die Baugemeinschaften, von denen es mehr als 200 gibt, deren Konzept die größte Qualität hat. Dabei kommen Quartiere heraus, die eine hohe Dichte haben. Das Tübinger Modell sei ein „Plädoyer für eine kompakte Stadt“, sagte Cord Soehlke. Dass die Viertel „eine Seele haben, die man spürt“, hat auch damit zu tun, dass die Bauherren zwar sehr individuelle Projekte realisieren, aber ein hohes Maß an Verantwortung für das Quartier aufbringen.

Das Café Stöckle als Beispiel urbaner Geselligkeit

Dieses Verantwortungsbewusstsein des Bauherren für die städtebauliche Situation sieht Jórunn Ragnarsdóttir heute nicht mehr ausreichend vorhanden. Dies sei in der Gründerzeit noch anders gewesen, schwärmte die Architektin über den Stuttgarter Westen. Das Café Stöckle diente ihr als Beispiel urbaner Geselligkeit in einem intakten Quartier. „Warum wird die Stadt, die wir lieben, nicht mehr gebaut?“, fragte Ragnarsdóttir.

Für Manfred Hegger ist das Quartier ein „Treibriemen der Energiewende“. Das Quartier als Einheit eigne sich besonders „zur Erzeugung und Verteilung von Energie“, erläuterte der Professor für Energieeffizientes Bauen an der TU Darmstadt anhand von Beispielen.

Wie einzelne Bürger in einer breit angelegten Beteiligung auch ein vergleichsweise großes Bauprojekt schultern können, zeigt der Möckernkiez in Berlin. Nach einem etliche Jahre dauernden Prozess mit hunderten von Workshops hat in diesem Jahr der Bau von 446 Wohnungen und 22 Gewerbeeinheiten mit Hotel und Supermarkt auf einer Kreuzberger Brache begonnen. 1350 Personen haben sich zu der Baugenossenschaft zusammengetan, sie haben 30 Millionen Euro Eigenkapital aufgebracht, um die 115-Millionen-Euro-Investition zu stemmen. „Das Gemeinwohlinteresse steht im Fokus“, sagte Aino Simon vom Vorstand der Möckernkiez eG. „Die Menschen wollen sich engagieren und Verantwortung übernehmen, sie wollen Sinn“, so Simon.

Eines aber gelingt im Möckernkiez und auch in Tübingen bei aller Vielfalt der Nutzer doch nicht: dass dort auch Sozialmieter und Migranten entsprechend ihres Bevölkerungsanteils eine Bleibe finden. „Diesen Mix kriegen wir nicht hin“, sagte Aino Simon. „Das ist ohne Unterstützung der öffentlichen Hand nicht möglich.“