Der Sport stärkt die Titelverteidigerin Dorothea Frey im Kampf gegen multiple Sklerose. 2010 gewann sie den Halbmarathon des StZ-Laufs.  

Stuttgart - Bei 60.000 Metern hat Dorothea Frey Neuland betreten. Denn länger ist sie bis dahin nicht unterwegs gewesen. "Es hat alles wehgetan, und ich hatte eigentlich auch keine Lust mehr", sagt die Vorjahressiegerin des Stuttgarter-Zeitung-Laufs aus Leonberg und erinnert sich, dass jener 100-Kilometer-Lauf 2008 in Kienbaum in 20 Runden eingeteilt war. Daher lief sie oft an ihrem Mann vorbei, der am Streckenrand stand. Er erfüllte ihr einerseits die Verpflegungswünsche, andererseits motivierte er sie, erzählte von Durchhalte-SMS aus der Heimat. Seine Frau lief weiter, immer und immer weiter - und erreichte nach 8:16,36 Stunden als deutsche Vizemeisterin das Ziel. "Nach 100 Kilometern konnte ich mich nicht mehr freuen."

 

Dorothea Frey ging im gleichen Jahr aber noch einmal auf dieser Extremdistanz an den Start, für das Nationalteam bei der Europameisterschaft in Italien. Dort lief es nicht so gut, daher "habe ich noch eine Rechnung mit den 100 Kilometern offen". Diese hat sie bisher noch nicht beglichen. Schließlich zwangen sie zwei Operationen an den Fersen zu einer Pause.

2010 meldete sich Frey danach eindrucksvoll zurück: als Siegerin des Schwäbische-Alb-Marathons über 50 Kilometer. Sie gewann auch den Halbmarathon des StZ-Laufs (1:23,07), bei dem sie dieses Jahr damit zu den Favoritinnen zählt. Kürzere Strecken läuft sie ungern. "Ich bin keine Sprinterin", sagt die Finanzbeamtin im Gespräch in einem Stuttgarter Café mit ausgeprägter Mimik und Gestik. "Es ist ein Ausgleich zum Bürojob, und ich fühle mich danach immer gut." Sie denkt eine Weile nach und fügt an: "Außerdem lenkt es ab." Denn der Laufsport ist auch eine Art Medikament gegen ihre multiple Sklerose (MS). "Aber es ist nicht so, dass ich andauernd an die Krankheit denke."

"Es ist viel besser, offen damit umzugehen"

Mit 22 Jahren sah sie auf dem rechten Auge plötzlich nichts mehr. Die Ärzte diagnostizierten Symptome einer MS, die eine entzündliche Erkrankung des Nervensystems ist. Dorothea Frey probierte eine medikamentöse Behandlung, brach diese jedoch ab. Sie versuchte die Krankheit zu verdrängen, wollte nicht, dass andere davon wissen, schaute rechts und links, wenn sie die Arztpraxis betrat, schob es auf ihre Schusseligkeit, wenn ihr ein Stift runterfiel, schloss sich daheim ein, wenn gewisse Funktionen durch einen Schub beeinträchtigt waren. Mittlerweile spricht sie ganz offen über ihre Krankheit. Ein Schub, nach dem ihre rechte Körperhälfte gelähmt war, gab den Ausschlag dafür.

Sie wollte nicht mehr lügen.

"Es ist viel besser, offen damit umzugehen", sagt die 37-Jährige heute. Ihre Körpersprache wird bei diesem Thema aber zurückhaltender, die Arme bleiben nun überwiegend gestenarm. Man solle sich nicht immer damit konfrontieren, sagt sie, "aber man darf auch nicht ganz auf taub stellen". Daher informiert sie sich regelmäßig über Behandlungsmethoden.

Frey will kein Mitleid

Die Ärzte rieten ihr zwar nicht vom Laufsport ab, ungewöhnlich sind Ultramarathons für MS-Erkrankte aber schon. "Sport unterstützt die Bewältigung und das körperliche Wohlbefinden. Er mobilisiert Reserven, erhält die Beweglichkeit, schult das Gehirn", sagt Arthur Melms, der Ärztliche Direktor der neurologischen Klinik in Tübingen. Er berichtet von Untersuchungen, die zeigten, dass sich MS-Erkrankte häufiger sportlich betätigen als gesunde Menschen. Deswegen sei sportliche Aktivität aber kein Muss, für manche Patienten sei sie auch weniger geeignet. "Den Bewegungsdrang sollte man nicht bremsen, aber auch die Grenzen bedenken und vorsichtig sein", sagt der Arzt.

"Ich habe gemerkt, dass mir der Sport guttut", sagt Dorothea Frey. Sie möchte aber nicht als Vorbild dienen. Für den Neurologen Melms hingegen eignet sie sich dafür, weil sie zeige, "dass man auch mit dieser Krankheit besondere Leistungen vollbringen kann". Frey will auch kein Mitleid, keine Extrabehandlung, keine besondere Würdigung ihrer Lauferfolge. "Das fände ich peinlich", sagt sie, "schließlich müssen wir alle trainieren." Die Krankheit motiviert sie aber auch. Denn die Ungewissheit der Zukunft treibt sie an. "Vielleicht mache ich auch deswegen so einen Unfug, zwei Wochen nach einem Marathon einen 50-Kilometer-Lauf zu absolvieren", sagt Frey.

Ihr größter Erfolg sei 2010 in Essen gewesen, als die Leonbergerin den dortigen Marathon unter 2:50 Stunden beendete (2:48,05) - das bisher einzige Mal. Besonders ist dieser Erfolg, weil Dorothea Frey erst als 21-Jährige mit dem Laufsport anfing. Ihr Mann, der unermüdliche Antreiber am Streckenrand, nennt sie auch liebevoll "Dorocell" - in Anlehnung an eine Batteriemarke, die laut einem Werbespot "läuft und läuft und läuft".