Am besten, höchsten, kleinsten. Rund um Stuttgart finden sich viele überraschende Superlative. Das höchste Hochhaus ist bereits ein Veteran.  

Böblingen : Ulrich Stolte (uls)

Stuttgart - Er ist nur ein Riese unter den Zwergen, ein Gulliver im Lande Liliput. Der 79 Meter hohe Wüstenrot-Turm gilt als das höchste Bauwerk in den Landkreisen rund um Stuttgart. Das ist allerdings nichts im Vergleich zum Frankfurter Commerzbank Tower mit 300 Metern und geradezu ein Klacks im Vergleich zum höchsten Gebäude der Welt, dem Burj Khalifa in Dubai mit 830 Metern. Während an anderen Orten der Welt prunkvolle Skylines gebaut werden, die von fernher die Besucher grüßen, begräbt der Schwabe seine Milliarden wohl lieber tief unter der Erde.

 

Es gibt keine offizielle Statistik über die Hochhäuser in der Region. Weder das statistische Landesamt noch die Bauämter der Landkreise noch die Höhenrettung der Feuerwehr haben Daten gesammelt. Aber jedenfalls sind die drei Hochhäuser in Stuttgart-Asemwald keine Konkurrenz für den Wüstenrot-Turm: Der größte der drei Blocks, Hannibal, bringt es nur auf knapp 70 Meter. Und auch das Salute-Hochhaus auf dem Stuttgarter Fasanenhof ist kleiner. Wer also rund um Stuttgart glaubt, er könne mehr bieten als 79 Meter, der möge jetzt sprechen oder für immer schweigen.

28 Mitarbeiter halten Gebäudekomplex in Schuss

Man hört nur den Wind auf dem Dach des Hochhauses. Die wintergraue steinerne Ödnis erinnert an einen Alpengipfel, ein paar Grashalme, die zwischen den Betonplatten wachsen, werden vom Sturm gepeitscht und nicken rhythmisch in der Frequenz der Böen. Zu Füßen liegt Ludwigsburg, im Osten der Naturpark Stromberg, an klaren Tagen sieht man bis nach Heidelberg.

Der technische Verantwortliche für das Haus, Karl-Heinz Graßl, hält mit den Händen die Jacke zu. 28 Mitarbeiter helfen ihm, den Gebäudekomplex in Schuss zu halten. Ein Kampf gegen Tücken der Technik, den er jeden Tag aufs Neue gewinnen muss. Im Schnitt klingelt alle zwölf Minuten sein Telefon und verlangt ihm eine Entscheidung ab. Er kennt das Haus wie kein anderer. Der Wüstenrot-Turm ist ein Veteran unter den Hochhäusern. Erbaut in den Jahren 1972 bis 1974, überragt er das Wüstenrot-Areal, das sich auf den Gemarkungen von Kornwestheim und Ludwigsburg erstreckt. Hier steht eine ganze Stadt, in der 3600 bis 4000 Menschen ihrer Arbeit nachgehen. Der älteste Teil des Ensembles ist von 1927, ein sehenswerter, schwungvoller Bauhaus-Körper, der jetzt in der Masse der Architektur beinahe untergeht.

Turm wurde mehrfach umgebaut

17 Etagen Büroräume und drei Etagen Keller mit Lüftung, Klimanlagen und einem ganzen Umspannwerk liegen unter der Dachhaut, darüber bringt eine Antenne das Gebäude auf 79 Meter. Auf dem Dach steht eine simple Garage, in der ein Schwenkkran untergebracht ist. Damit wird die Fassade repariert. 17 Fensterfronten übereinander gilt es zu warten, 17 Galerien mit Trittgittern und Taubennetzen müssen kontrolliert werden.

Damit die Bewohner im Ernstfall aus dem Haus fliehen können, lässt sich das Treppenhaus zu einer Art Lebensrettungskammer umfunktionierten. Brennt es, wird mit hohem Druck Atemluft ins Treppenhaus geblasen, um den Rauch draußen zu halten. Der Pressesprecher Rainer Rudolf guckt nach unten, wo sich 17-mal wie in einem Spiegelkabinett Geländer und Stufen wiederholen, der zweite, nicht weniger atemberaubende Blick des Tages. 15 Jahre lang hat Rudolf hier gearbeitet. Manchmal saß er oben in den Vorstandsetagen im Schneesturm, während unten ein paar Regentropfen an die Scheiben klopften.

Seltsames Gefühl aus Enge und Ausgesetztheit

Seit dieser Zeit wurde in dem Turm mehrfach umgebaut, zuletzt die Vorstandsetage. Die Büros sind in schlichtem Weiß gehalten. Darin herrscht ein seltsames Gefühl aus Enge und Ausgesetztheit, das vielleicht dadurch entsteht, dass die Fenster einen unvermuteten, phänomenalen Blick über die Landschaft freigeben. Den Mitarbeitern von Wüstenrot ist heute nicht mehr bekannt, warum die Bausparkasse den in der Gegend einzigartigen Bau wagte. Er hat jedoch auch nach 40 Jahren nichts von seinem Reiz verloren. Heute werden Hochhäuser von manchen Autoren als ökologischer Unfug verschrien, als aufrecht stehende Tauchsieder gebrandmarkt. Andere wiederum halten sie bis zu einer Höhe von 300 Metern wegen des schonenen Flächenverbrauchs für ökologisch.

Dennoch hat sich in den Kreisen rund um Stuttgart kaum eine nennenswerte Hochhausarchitektur entwickelt. Im Kreis Esslingen ragt in der Kirchheimer Talstraße ein Hochhaus empor und in Göppingen das Panoramahochhaus mit zwölf Stockwerken. In Fellbach liegt ein 100 Meter Turm auf Eis, der Investor sucht noch Finanziers. Nur im Kreis Böblingen hat man Visionen: Auf dem dortigen Flugfeld sollen drei richtig große Türme gebaut werden. Allerdings ist man dort noch nicht einmal im Planungsstadium.

Pharaonen, Kirchen und der Pionier des Hochhausbaus

Höher: Es ist nicht so einfach, die Höhe eines Hochhauses zu bestimmen. Man misst zurzeit mit dreierlei Maß: die Höhe bis zur Oberkante des Gebäudes, die Höhe des höchsten nutzbaren Stockwerks und die Höhe bis zur obersten Gebäudespitze, dazu zählen dann auch Antennen oder andere Aufbauten mit.

Älter: Etwa 3900 Jahre lang war die Pyramide von Gizeh mit ursprünglich 147 Metern das höchste Gebäude der Welt. Sie wurde im Jahr 1311 von der Kathedrale in Lincoln in England mit 159,7 Metern Turmhöhe übertroffen. Die beiden Bauwerke kann man allerdings schlecht als Hochhäuser bezeichnen.

Früher: Der Stuttgarter Tagblattturm, in dem sich noch jetzt Büros unserer Zeitung befinden, ist mit 61 Meter Höhe eines der frühesten Hochhäuser Deutschlands. Gebaut wurde er von 1924 bis 1928. Der 1927 eingebaute und in den 60ern demontierte Paternoster-Aufzug war seinerzeit der längste der Welt.