Star in einer parallelen Sportwelt: Philip Köster hat Sportgeschichte geschrieben. Der 17-Jährige ist der erste deutsche Windsurf-Weltmeister.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Sylt - Man sieht das Elend schon am Morgen kommen. Die Dämmerung verzieht sich langsam am Brandenburger Strand vor Westerland. Kurz vor neun Uhr ist es, der Frühnebel verabschiedet sich und macht Platz für die Sonne. Ein paar Möwen sind auf Futtersuche, die ersten Gäste richten die Strandkörbe entsprechend dem Stand der Sonne aus. Flach liegt die Nordsee vor ihnen wie ein norddeutsches Stillleben - topfeben. Nur langsam beginnt das Leben am Strand von Neuem. Die Ruhe vor dem Sturm? Es kommt kein Sturm - heute nicht, morgen nicht, schönster Spätsommer. "Was für ein beschissenes Wetter", sagt ein Surfer.

 

Sie sitzen vor einem weißen Zelt, sie trinken Kaffee, sie schauen hinaus aufs Meer. Zahllose Fahnen der Sponsoren des Surf-Weltcups wehen am Strand im viel zu leichten Wind. Es sieht aus wie am Vorabend einer mittelalterlichen Schlacht mit all den Bannern an der Promenade. Die Schlacht der Surfer fällt aus. Sie sind gestrandet.

Philip Köster schlappt ein wenig missmutig im Erdgeschoss des Gebäudes in der Strandstraße 35 umher, eine Hand in der Hosentasche, die Mütze tief ins Gesicht gezogen. Die Tourismuszentrale von Westerland hinter der Promenade ist in den Tagen des Weltcups die Anlaufstelle für alle Neuigkeiten. Es gibt nichts Neues. Der 17-Jährige sieht in diesem Moment ein bisschen aus wie ein Junge, dem man sein Spielzeug weggenommen hat, den Wind. Er ist der, der mit dem Wind tanzt. Vor Sylt tanzt niemand. Der Blues vor der Küste. Still ruht die Nordsee. Nichts geht hier am Brandenburger Strand. Kein Wind, kein Wettkampf, seit Samstag geht das schon so, wieder ein verlorener Tag. Windstärke eins bis zwei, viel zu wenig.

So stellt man sich einen Surfer vor

Zur Unzeit, denn es ist seine Krönungswoche und die größte Windsurfveranstaltung der Welt: das Wimbledon der Bretter. Vor zwei Wochen hat sich der 17-Jährige vorzeitig den WM-Titel im "Waveriding" gesichert, der Kombination aus dem Reiten der Welle und Sprüngen, bei denen sie als eine Art Abschussrampe dient. Er hat alle Weltcups dieser Saison in der Königsdisziplin des Windsurfens gewonnen.

Er ist der zweitjüngste Titelträger nach dem legendären Robby Naish - und er ist der erste deutsche Weltmeister überhaupt. Am Sonntag wird er auf Sylt offiziell ausgezeichnet. Auf der Insel dreht sich deshalb in diesen Tagen alles um diesen Burschen, der mit Superlativen überhäuft wird: Ausnahmesurfer, Jahrhunderttalent, die Zukunft.

Philip Köster nimmt auf einer schwarzen Couch im ersten Stock des Verwaltungsgebäudes Platz. Ein großer, kräftiger junger Mann. 1,87 Meter groß, 89 Kilogramm, braun gebrannt, ein bisschen pausbäckig. Wie stellt man sich einen Surfer vor? So! Wallende Mähne, Sneakers, dunkle Hose, dunkle Jacke, Kappe. Die coole Aura eines Beach-Boys.

Das Klassentreffen X-Games

Er nimmt die Mütze mit dem Emblem eines Dosenimperiums ab und legt sie neben das Blumengesteck auf dem Tisch. Er sieht müde aus, und wenn er erzählt, wie zuletzt die mediale Welle über dem Dominator der Wellen hereingebrochen ist, weiß man, warum. Er steht im Scanner der Öffentlichkeit, die ihn bis vor wenigen Tagen nicht kannte und nun von dem zurückhaltenden Burschen mit dem Flaum am Kinn wissen will, woher er kommt, was er denkt. Keine ruhige Minute habe er gehabt. Richtig realisiert habe er das alles noch nicht. Er ist krank. Das alles, das Reden, ist nicht seine Welt. "Im Wasser fühle ich mich am wohlsten."

Deutschland hat viele Sportstars. Dirk Nowitzki etwa, oder Michael Schumacher, Steffi Graf oder Magdalena Neuner. Einen wie Philip Köster gab es im guten, alten Deutschland noch nie. Einen Star aus der Welt des "Trendsports". Er ist der erste deutsche Weltmeister in einer Parallelwelt des Sports, die in dieser Zielgruppe mehr und mehr Zulauf hat und unter der jüngeren Generation drauf und dran ist, dem klassischen, dem olympischen Sport den Rang abzulaufen: In Zürich bejubelten am Wochenende 32.000 Fans Snowboarder und Skateboarder in der Halfpipe, in Sylt sind es über die Woche verteilt 200.000. Die Mischung aus Show und Lifestyle, aus Party und Spektakel zieht die Massen.

Tony Hawk oder Shaun White oder Kelly Slater heißen die Ikonen dieser Generation. Sie fahren Skateboard, snowboarden, reiten Wellen. Einmal im Jahr kommen sie zu ihrem Klassentreffen bei den "X-Games" zusammen. Es ist das Olympia der Neuzeit. Es duellieren sich die Skateboarder, BMX-Fahrer, Snowboarder oder Motocross-Piloten. Sie starten für sich, nicht für ein Land. 

Die Mutter aller Funsportarten

Es gibt keine Hymnen, keine Konventionen, außer cool zu sein. Es gibt kein verstaubtes Internationales Olympisches Komitee (IOC), das alles reglementiert und Kleidervorschriften erlässt, keine Sportspießer. Es gibt nur den Sportriesen ESPN. Cool, schnell und laut soll die Veranstaltung nach dem Willen des ausrichtenden Senders sein. Das ist alles. Entertainment für die Millenniumsgeneration. Windsurfen ist zwar aktuell kein Teil der X-Games, aber es ist der Anfang: die Mutter aller Funsportarten.

Wie eine Krake hat das IOC, die Weltmacht des Sports, ihre Fühler im Kampf gegen eine Vergreisung des Publikums nach jungen Sportarten ausgestreckt, Snowboarden, Skicross und BMX sind mittlerweile olympisch. Windsurfen ist es schon seit 1984 in einer Variante, Amelie Lux hat 2000 mal Silber gewonnen. Eine Rolle spielt Olympia in der Welt der X-Sportler aber kaum. Auch Philip Köster kann mit den fünf Ringen wenig anfangen. "Ich weiß nicht genau, was da gemacht wird. Sind glaub' andere Bretter und so."

Philip Köster kommt zu einem Zeitpunkt auf, da sein Sport Helden wie ihn mehr denn je gebrauchen kann. Dem Windsurfen sind die Ikonen abhandengekommen. Es hat den Weg geebnet für andere Disziplinen und ist dabei selbst ein klein wenig auf der Strecke geblieben. Windsurfen ist zwar noch immer beliebt, heute aber auch ein bisschen von gestern. Old School, wie man in der Szene sagen würde. So 80er und 90er Jahre mäßig.

"Man muss sehr diszipliniert sein"

Windsurfen war in dieser Zeit ein großer Sport. Es verkörperte das Lebensgefühl einer Generation, die Sehnsucht nach Sonne, nach Freiheit. Die dänische Windsurflegende Björn Dunkerbeck machte Nutella-Werbung und wurde in Deutschland berühmt, die TV-Serie "Gegen den Wind" aus St.-Peter-Ording mit Ralf Bauer und Hardy Krüger jr. war die Soap zum Boom.

1986 wurden bundesweit 180.000 Bretter verkauft, zwanzig Jahre später 9000. Vor allem Wellenreiten ohne Segel erfreut sich großer Beliebtheit und ist heute ein Lifestyleprodukt, das bei jungen Menschen angesagt ist. Es steht für Freiheit, Party und Lebensgefühl. Nun aber hat Windsurfen in Deutschland endlich ein Gesicht: das von Philip Köster, den Lord of the Boards. Der neue Coverboy des Windsurfens kann nicht viel anfangen mit all dem, was auf seine Person kapriziert wird. "Ich will nur Spaß haben und surfen."

Er kennt all die Klischees, die man mit dem Surfen verbindet: Partys, Frauen. Er raucht nicht, er trinkt nicht. Mit seinen 17 Jahren ist er die Antithese zum Stereotyp. Er sagt: "Es gibt ein paar, die abends feiern. Aber die sind am nächsten Tag nicht vorne. Man muss sehr diszipliniert sein."

Die Fachtermini klingen wie eine Bestellung bei McDonald's

Seine Eltern sind 1981 von Hamburg nach Gran Canaria ausgewandert. Sie haben dort im Surferparadies Playa des Ingles eine Surfschule eröffnet, nach ein paar Jahren zogen sie in den Norden, an einen schroffen Strandabschnitt bei Vargas, der damals als nicht surfbar galt. 1995 nahmen sie Starkwindsurfen mit in ihr Angebot auf. Philip wuchs mit Sicht auf das Meer auf. Noch immer wohnt er dort am Atlantik. Er war kanarischer Meister über 50 Meter Schmetterling, mit acht begann er mit dem Windsurfen. Es ließ ihn nicht mehr los.

Der erste Blick des Tages gilt dem Wasser. Zwei Stunden surfen, dann frühstücken. 2006, mit zwölf, bestritt er seinen ersten Weltcup, 2008 wurde er "Rookie of the Year", 2009 ging er mit dem Realschulabschluss vom Gymnasium der Insel ab, die Fehlzeiten von bis zu vier Monaten ließen sich nicht aufholen. Seitdem ist er Profi, er hat große Sponsoren. Sieben bis acht Monate im Jahr ist er auf Welttournee, Vater Rolf immer an seiner Seite. Zeit für ein Leben an Land bleibt kaum. Wasser ist sein Element. Er sagt: "Wasser ist mein ein und alles. Wasser ist Freiheit für mich."

Der Junge hat seinen Sport auf ein neues Level gehoben. Die Fachtermini klingen für Außenstehende wie eine Bestellung bei McDonald's. Vereinfacht gesagt ist Köster die nächste Ausbaustufe des Waveridings. Er hat das Talent, die Kraft, die koordinativen Fähigkeiten und das Auge für die richtige Welle. Er hat das Besondere, Sprünge mit zweifachem Vorwärtssalto, alltäglich gemacht. "Früher reichte so ein Sprung zum Sieg", sagt er. Seit er dabei ist, hat man ohne ihn keine Chance mehr. Er zwingt seine Konkurrenten zu mehr Risiko. Demnächst will er den extrem gefährlichen dreifachen "Front-Loop" springen: drei Salti, als erster Windsurfer der Geschichte. Den Sprung-Weltrekord hält er bereits - mit 20 Metern. Ein Einfamilienhaus ist knapp sieben Meter hoch. "Er wird auf Jahre hinaus dominieren", sagt Björn Dunkerbeck.

Wasser kann hart wie Beton sein

Ein Strahlen huscht über das Gesicht von Philip Köster. Es geht um Wellen. Er spricht von der Faszination des Windsurfens, diesem Gefühl von Freiheit. Maui ist das Mekka der Windanbeter, der Ort, mit den besten Wellen. Sechsmal war er schon auf der hawaiianischen Insel. Wellen, mehrere Stockwerke hoch, die keine Fehler verzeihen. "Wer Angst hat, kommt nicht weit."

Er schwärmt von bis zu zehn Meter hohen Brechern, dem Kampf mit dem Wind bei Stärke acht. Noch mehr, und es wird unkontrollierbar. Optimal sind Windstärke sechs und Wellen von um die drei Meter. Das Handgelenk hat er sich mal gebrochen, Wasser kann hart wie Beton sein, wenn man aus 20 Metern abstürzt, den Fuß mehrfach angebrochen, "das gehört dazu. Eine schlimme Verletzung hatte ich nie."

Philip Köster steht von der Couch auf. Der 17-Jährige wirft einen Blick aus dem Fenster, auf die Nordsee, die er so liebt. Ein herrlicher Nachmittag und noch immer keine Wellen, die die Bezeichnung verdienen. Er schüttelt enttäuscht den Kopf.