Das SWR-Vokalensemble hat in Stuttgart japanische Chormusik des 20. Jahrhunderts gesungen.

Stuttgart - Von wegen japanisch! Als sich das SWR-Vokalensemble am Sonntag aufmacht, seine Reihe der Länderschwerpunkte um Musik aus dem Land der aufgehenden Sonne zu erweitern, ist weitaus mehr zu hören als das Erwartete, also Ton-Umkreisungen, Naturlaute und pentatonische Melodien. Was (unter anderem) für viele technische Produkte gilt, trifft auch für die Chormusik zu: Wo Japan draufsteht, ist vor allem anderes drin. Lange hatte sich das Land abgeschottet – und als es sich öffnete, kamen Ideen und Traditionen aus Europa und Amerika auf die eigene Kultur wie ein Tsunami. So wurde das Konzert in der Gaisburger Kirche zu einer spannenden Entdeckungsreise, die man bereichert und mit vielerlei unterschiedlichen Fundstücken in den Ohren verließ.

 

Da ist zum Beispiel Toru Takemitsu (1930-1996), der wohl populärste Komponist seines Landes. In zwei seiner Songs hört man: hochromantische deutsche, vielleicht auch ein wenig amerikanisierte Chormusik, die nur bei den gerne im Dominantischen endenden Schlüssen ein wenig fremdelt. Und in seinem langen Chorwerk „Windpferd“ erklingt Wind in vielen Stärken und Farben, alte schamanische Weisen scheinen auf, und die reizvolle Exotik gerinnt zu Momenten voller Pathos, die etwas von Filmmusik, ja, gelegentlich auch Anklänge von alpenländisch ausgeterzter Heimeligkeit haben. Die Distanz zum kitschigen Zuviel wird dabei nicht immer gewahrt.

Anders bei „Die Lotosblume“, einem Chorsatz, in dem Toshio HosokawaHeinrich Heines deutsches Gedicht über eine japanische Naturszene mit einer japanisch-deutschen Musikmelange beantwortet: Schumanns und Brahms’ Volkslied-Ton greift der Komponist des Jahrgangs 1955 ebenso auf wie jenes tastende, meditative Umschweben von Tönen in Mikrointervallen, das man mit alter japanischer Musik verbindet; hinzu kommen im Chor hörbare, weite Atembögen, rhythmische Verschiebungen, und der Schlagzeuger Franz Bach steuert mit Glöckchen und Marimbaphon zusätzliche Farben bei.

Am ursprünglichsten, also am japanischsten wirkt an diesem Abend ein Werk des 1929 geborenen Michio Mamiya, das sich schlicht „Composition for Chorus No. 1“ nennt. Es fußt auf japanischen Volksliedern, speziell auf traditionellen Rufen von Arbeitern, und spätestens wenn es den Chor schließlich sogar zum Imitator von Schlagzeuggeräuschen werden lässt, kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus – über die packende, hoch energetische Musik, aber auch über dieses Sängerkollektiv. Seit 2003 leitet Marcus Creed das SWR-Vokalensemble, und in den zurückliegenden 15 Jahren hat er einen Klangkörper geformt, der zum Exzellentesten in der internationalen Chorlandschaft zählt. Intonation, Konzentration, Artikulation, gemeinsames Atmen und – vielleicht am wichtigsten – das selbstverständliche Aufeinander-Hören: Das ist alles da und höchste Kunst. Wenn dann noch wie an diesem Abend die Lust der Sänger an der ungewohnten Materie spürbar wird, ist der Genuss vollkommen.