Hussein Dib spielte einst in der syrischen Fußball-Nationalmannschaft. Jetzt lebt er als Flüchtling in einem Stuttgart Asylbewerberheim.

Stuttgart - Es ist ein Gruppenbild mit einem Tyrannen. Der alte Mann mit dem Habichtsgesicht steht auf der Fotografie in der Mitte, die Gesichtszüge eingefroren, der Blick des Diktators starr. Jungs in Fußballtrikots drängen sich um Hafiz al-Assad, den Vater des heutigen syrischen Machthabers Baschar al-Assad. Sie tragen Wuschelfrisuren und Schnurrbärte. Alle sehen ein bisschen aus wie der „Magnum“-Star Tom Selleck – es sind nun mal die 80er Jahre. Der Anlass für das Foto mit dem Präsidenten war der Sieg der syrischen Nationalmannschaft über Frankreich bei den Mittelmeerspielen 1987. Ein Turnier der Anrainerstaaten des Binnenmeers, das in Deutschland niemand kennt. Doch für Syrien war der Sieg ein großer sportlicher Moment, nicht zuletzt für das Regime. Selten genug gab es Brot für das Volk, nun gab es wenigstens einmal Spiele.

 

Ganz weit rechts von Hafiz al-Assad auf dem Schnurrbartträgerbild steht Hussein Dib, er zeigt die gleiche Pose und das gleiche Siegerlächeln wie die übrigen Fußballer. 27 Jahre ist das her. Dib hält die alte Aufnahme in seinen Händen. Sie erinnert ihn daran, wie nahe er einmal der Macht in Damaskus war. Das Foto ist inzwischen vergilbt, und die Oberfläche hat sich gewellt – vielleicht vom Angstschweiß auf der Flucht aus Syrien oder von der Gischt des Mittelmeers. Die spritzte ohne Unterlass über die Reling in die Nussschale, in der Hussein Dib mit zwei seiner Kinder während der Überfahrt nach Europa bibberte.

Neben Hussein Dib, 49, sitzt seine Tochter Diana, 21, an einem Plastiktisch in der Flüchtlingsunterkunft im Stuttgarter Stadtteil Heumaden. Sein Sohn Ali, 19, macht es sich auf dem Bett bequem. Er freut sich über Besuch und nuschelt zur Begrüßung arabische Wörter. Ali hat das Down-Syndrom. Die Behinderung ist der Grund, warum der Vater ihn mitnahm: Hussein Dib musste wählen, wer aus seiner großen Familie ihn nach Europa begleiten darf. Alle auf einmal, das kann sich nicht einmal ein reicher Syrer wie er leisten.

Trümmerberge, die einst Städte waren

Da sitzt sie nun, die halbe Familie Dib in Heumaden vor einem Fernseher mit Satellitenempfang. Er ist auf einen arabischen Sender eingestellt. Der Kanal zeigt zwischen Seifenopern und Quizshows Bilder vom Krieg in Syrien, derer das deutsche Fernsehpublikum längst überdrüssig geworden ist. Syrien war einmal ein Land, jetzt ist es eine Wüste aus pulverisiertem Beton und verbogenem Metall. Wer laufen kann und es nicht über die Grenze etwa in die Türkei geschafft hat, ist zum großen Teil im Land selbst auf der Flucht: von einem Trümmerberg, der einst eine Stadt war, zu einem anderen Trümmerberg, der einst eine Stadt war. Die Syrer sind auf der Suche nach Essen, sauberem Wasser, Ärzten und einem Dach über dem Kopf. Sie wollen sich wegbewegen von den Fronten, die ihnen dann doch überall hin folgen.

Mittendrin im syrischen Totentanz warten Husseins Frau Suhad und zwei weitere Söhne darauf, dass der Vater einen Weg finden wird, sie nach Deutschland zu holen. „Sie leben im Moment in einem Teil von Damaskus, der noch relativ ruhig ist“, sagt Diana. „Relative Ruhe“ bedeutet in Syrien, dass ab und zu mal Bomben und Schüsse fallen, nicht ohne Unterlass wie etwa in den Ruinen von Aleppo.

Die Tochter des früheren Fußballnationalspielers hat in Damaskus Mathematik studiert. Über dem kastanienbraunen Haar trägt Diana kein Kopftuch. So ist es üblich in der Hautevolee von Damaskus. Der Vater, für den sie Arabisch in fließendes Englisch und noch etwas holperiges Deutsch übersetzt, muss seinen Stolz auf seine Tochter nicht in Worte fassen. Er lässt sie reden und hört ihr zu, wenn sie ihn unterbricht. Die beiden erscheinen wie gut eingespielte Partner in einem Spiel, das Überleben heißt. Sie mussten auf der Flucht ausgleichen, dass der Dritte im Team, Ali, mit seinem Down-Syndrom verwundbar ist.

Die Flucht nach Italien

Am Flughafen von Damaskus im September 2013 wollen die Grenzbeamten Ali verhaften, weil er mit 18 Jahren eigentlich zur Armee müsste, Behinderung hin, Behinderung her. Es ist der Vater, der im Terminal mit dem Handy die alten Bekannten aus der Nomenklatur anruft, um das Problem zu lösen. Es ist die Tochter, die Ali an der Hand hält und ihn beruhigt.

Im Anschluss an den Flug nach Kairo und der Fahrt in die Hafenstadt Alexandria geht es nachts in die Boote, die das rettende Europa ansteuern. Versprochen haben die Schmuggler für 25 000 Dollar puren Luxus: ein eigenes Zimmer an Bord für die Dibs. Doch sie bieten die Hölle.

Auf Planken sitzen die Flüchtlinge eng gekauert nebeneinander, Erbrochenes und Salzwasser schwappt über ihre Füße. Die einzige Toilette – ein schon bald völlig verdrecktes Loch – erreicht nur, wer sich einen Weg frei boxt. Die Schmuggler an Bord verlieren bald die Nerven. Sie finden die Richtung nach Italien nicht, wissen nicht mehr, wo Norden ist und wo Süden. Sie brüllen und keifen, lassen ihre Wut an den Passagieren aus. Doch irgendwann sind alle still an Bord. Hussein Dib legt seine Sportlerarme um die beiden Kinder. Soweit es geht, schirmt er sie ab und murmelt mit ihnen Gebete. Nach zehn Tagen werden sie erhört: Die italienische Marine taucht auf, sammelt die Elendsgestalten ein und steckt sie zur Begrüßung auf dem Festland in ein Gefängnis.

Nach ein paar Tagen sind sie frei, sollen dahin gehen, wo sie wollen, nur nicht in Italien bleiben. Der Vater entscheidet sich für Deutschland und kauft Zugtickets. Die Flucht endet in Stuttgart. Hussein Dib hat nun nichts mehr als sein Leben, die halbierte Familie und ein Haufen von Dokumenten und Fotografien bei sich, die beweisen, dass er einmal ganz oben war.

Ein tiefer Fall

Seine Geschichte beginnt mit Zufällen, und handelt wie bei vielen Fußballlegenden vom sagenhaften Aufstiegs eines Außenseiters. Nur waren statt der guten Fee im Märchen die Assads Paten des Erfolgs.

Es war einmal ein Junge in einem Palästinenserlager in Damaskus. Die von den Israelis aus Palästina vertriebenen Eltern konnten ihm nicht viel mehr fürs Leben mitgeben als zwei flinke Beine. Mit ihnen jagt Hussein einem Lederball hinterher durch die Gassen des Flüchtlingslagers. Im syrischen Spitzelstaat bleibt nichts lange unbemerkt, nicht mal Talent. Hussein Dib hört mit zehn Jahren auf, ein Nichts zu sein. Stattdessen gehört er nun zu den Privilegierten, die in der Staatsgunst stehen.

Ein gutes Jahrzehnt später hat es Dib in der Kaderschmiede für junge Sporttalente weit gebracht. Er darf mit der syrischen Nationalmannschaft ins Ausland reisen. Libanon, Irak, das befreundete Ostblockland Rumänien – der Fußballer Hussein Dib kommt herum. Bevor er und die anderen Spieler ein Flugzeug besteigen, sammelt der Trainer ihre Pässe ein. Sie sind jetzt so etwas wie Staatseigentum und ein besonders wertvolles dazu. Dib macht das nichts aus. Warum sollte er auch ein Land verlassen wollen, das ihm, dem Flüchtlingskind, so viel Gutes erwiesen hat?

Mit 21 Jahren steht er als Stürmer auf dem Rasen, als Syrien bei den Mittelmeerspielen gegen Frankreich das Finale bestreitet. Es ist ein Wettkampf, bei dem es für Syrien nicht nur um einen Pokal geht. Hafiz al-Assad will den Sieg über die verhasste frühere Kolonialmacht um jeden Preis. Die syrischen Fußballer wissen, dass es für sie um alles oder nichts geht. Sie spielen quasi um ihr Leben – und gewinnen. „In Damaskus sind wir als Helden empfangen worden. Jeder bekam ein Haus, ein Auto und viel Geld“, erzählt Hussein Dib heute.

Hussein Dib gerät zwischen die Fronten

Das Elend des Flüchtlingslagers, in dem er aufwuchs, ist von nun an nur noch eine ferne Erinnerung für Hussein Dib. Er muss flott ausgesehen haben in seinem Sportwagen auf dem Weg zu den Partys der Reichen und Schönen in Damaskus. Auf der Straße winken ihm die Leute zu. Zum Wohlstand gesellt sich Ruhm, das gute Gefühl, von wildfremden Menschen geliebt zu werden. Die Schmeichler fühlen sich angezogen von seiner Popularität. Aber der Sportstar geht ihnen aus dem Weg, spart Vermögen an, hört auf zu feiern. Er heiratet und gewinnt Boden unter den Füßen.

Als seine aktive Zeit als Fußballer in den 90er Jahren zu Ende geht, schafft Hussein Dib etwas, an dem so mancher Sportler scheitert: die Karriere nach der Karriere. Ein Schokoladenproduzent macht ihm ein Angebot. Dib eröffnet eine eigene Akademie für junge syrische Fußballer und bekommt dafür Geld von dem Unternehmen.

Hussein Dib stellt sich gut mit den Mächtigen. Er trainiert sogar den Sohn von Baschar al-Assad, der wie sein Großvater Hafiz heißt. Hussein Dib lacht, als er gefragt wird, ob der Sohn des Diktators Talent hat. „Wenn die Gefahr bestand, dass ein anderer Spieler ihn beim Training berührt, habe ich sofort gepfiffen“, sagt er.

Statt auf einem Ledersofa in einer Villa in Damaskus sitzt Hussein Dib nun auf einem Plastikstuhl in der Flüchtlingsunterkunft in Heumaden. Es erscheint wie ein schlechter Scherz des Schicksals. Aufgewachsen als Flüchtling, dann in der Lebensmitte wieder Flüchtling – Hussein Dib sagt nichts darüber, ob ihn das verbittert. Er wirkt wie betäubt von dem Wirbel, der seine alte Existenz in Stücke gerissen hat. Über das Leben und seine Wendungen kann er sich im Moment ohnehin keine Gedanken machen. Seine Tochter hat ihr syrisches Smartphone auf dem Tisch liegen, immer wieder checkt Diana Mails. Gibt es etwas Neues von der Mutter und den Brüdern, die noch im Krieg sind?

Er träumt davon, wieder Trainer zu sein

Nach dem Beginn der Proteste gegen Baschar al-Assad bekommt das schöne Leben der Dibs Risse. Der Vater muss wie andere Prominente im Fernsehen auftreten. Er sagt, er habe nur zur Ruhe aufgefordert und nicht Assad gepriesen. Wie glaubwürdig das ist, sei dahingestellt. Tatsache ist, dass es dem Widerstand nicht schmeckt, was der einstige Fußballstar treibt. Dib erhält Drohungen und duckt sich weg. Im Staatsfernsehen erscheint er nicht mehr, um zum Volk zu sprechen.

Dib hat sich verrechnet. Es hilft ihm nichts zu sagen, dass er doch nur etwas von Fußball verstehe und nichts von Politik. Nun steht er auch für das Regime auf der Seite der Verräter. Auf der Straße tauchen Leute auf, die nicht mehr fröhlich winken, wenn sie ihn sehen, sondern ihn unter Druck setzen. Er solle wieder im Fernsehen sprechen, sagen sie oder: er solle ja nie wieder im Fernsehen sprechen.

Dann brennen die Niederlassungen seiner Akademie. Das Regime droht der Familie mit Verhaftung. Die Dibs tauchen unter, in der Hoffnung, sich im Strom der Vertriebenen und Ausgebombten zu verlieren. Doch Hussein Dib sieht eben immer noch aus wie Hussein Dib. Das Gesicht, das ihm Werbeeinnahmen eingebracht hatte, wird zum Fluch. Der Ruhm ist nun eine Falle, aus der es für ihn kein Entkommen gibt.

Sein Bruder steigt eines Tages in ein Auto, das Dib gehört. Er ist unterwegs in einer Stadt, in der Bewaffnete patrouillieren und Heckenschützen lauern. Er kommt nie wieder zu Hause an. Dib ist überzeugt, dass die Schüsse ihm gegolten haben, der Bruder nur Opfer einer Verwechslung wurde. Ihm wird endgültig klar, dass ein Hussein Dib in Syrien nicht überleben kann.

Ali ist unruhig geworden, weil sich lange niemand mit ihm beschäftigt hat. Sein Vater setzt sich zu ihm auf das Stockbett, tätschelt ihm die Schulter und streichelt über seine Wange. Hussein Dib hofft, dass sein Sohn in Stuttgart an einem Kurs teilnehmen kann, der Menschen mit Down-Syndrom fördert. Diana will ihr Mathematikstudium fortsetzen, deshalb paukt sie Deutsch. Und der Vater Hussein? Er träumt davon, auch in Deutschland als Trainer zu arbeiten. Eines Tages, wenn die ganze Familie wieder vereint ist. Der Fußball hat ihn schließlich schon einmal weit gebracht – damals in Syrien.