Man kann immer eine Lösung finden – wenn man möchte: Die Stuttgarterin Annette Fröhlich hat ein stark eingeschränktes Sichtfeld. Welche Erfahrungen sie im Line Dance Kurs gemacht hat.

Stuttgart - Annette Fröhlich hat den Tunnelblick. Ihr Gesichtsfeld ist stark eingeschränkt. Seit September nimmt die 56-Jährige, die in Ostheim wohnt, dennoch am Line-Dance-Kurs in der Tanzschule Wolf in Bad Cannstatt teil. Line Dance ist ein Gruppentanz, bei dem sich die einzelnen Tänzer vor und neben einander in Reihen beziehungsweise Linien bewegen. So wird die gleiche Choreografie immer wieder rotierend im Raum getanzt. Nach mehreren gemeinsamen Unterrichtsstunden sagen sowohl der Tanzschuleinhaber Sascha Wolf als auch seine Schülerin Annette Fröhlich: „Wir wissen beide, wie der andere tickt und auf was wir gegenseitig achten.“ Im Gespräch miteinander, das von unserer Redakteurin Daniela Eberhardt aufgezeichnet wurde, wollen sie anderen Trainern Mut machen – und nicht nur ihnen.

 

Sascha Wolf: Du hast eine Sehbeeinträchtigung. Wie stark ist sie und wie kann man sie sich vorstellen?

Annette Fröhlich Meine Sehschärfe beträgt rund 25 Prozent. Das ist nicht so außergewöhnlich. Mein Gesichtsfeld beträgt aber nur rund fünf Prozent. Man nennt dies „Tunnelblick“. Um ein Gefühl dafür zu bekommen, kann man die innere Papierrolle einer Küchenrolle so eng zusammenpressen, dass sie ungefähr den Durchmesser eines Zehncentstückes hat und vors Auge halten. Meine Krankheit hat auch einen Namen: „Retinitis Pigmentosa“. Es ist ein Gendefekt. In meiner Großfamilie habe nur ich diese Erkrankung, und ich bekam die Diagnose mit 27 Jahren. Sehbehinderung kann also wie bei mir bedeuten, dass ich immer mit dem Langstock unterwegs bin und gleichzeitig – zwar mit Mühen – noch Schwarzschrift lese.

Wie bist du auf Line Dance aufmerksam geworden?

Fröhlich Mir ist die DVD „Willkommen im Westerwald“ in die Finger gekommen. In dem Film hat der Asylbewerber Ahmad, der eine Unterkunft in einem abgeschiedenen Dorf im Westerwald zugewiesen bekommen hat, mit seinen Kenntnissen im Line Dance die Herzen der Dorfbewohner erobert. Er hat sie aus ihrer Trägheit gerissen und ihnen eine Perspektive aufgezeigt. Die Folge: ich war „Line Dance“-infiziert.

Warst du überrascht, dass ich dich spontan zur Probestunde eingeladen habe?

Fröhlich Ja, schon. Außerdem habe ich noch nie erlebt, dass die Gruppenmitglieder in die Entscheidung einbezogen wurden. So habe ich die Zusage, dass ich mich der Gruppe zumuten kann und mitgetragen werde. Das schließt nicht aus, dass man letztendlich doch zu der Entscheidung kommen kann, dass ich für die Gruppe oder die Aktivität nicht geeignet bin. Zu so einer Entscheidung kann es aber auch bei Menschen ohne Behinderung kommen. Das läuft für mich unter „normaler Gruppendynamik“.

Wie fühlst du dich von der Tanzgruppe aufgenommen?

Fröhlich In einem Wort: super! Einmal habe ich während dem Tanz die räumliche Orientierung verloren. Du hast mir zugerufen „mach‘ weiter, die anderen passen auf dich auf“ - das war ein hilfreicher Zuspruch. Die anderen bieten ihre Hilfe an, wenn es zum Beispiel an der Garderobe eng wird, aber ansonsten lassen sie mich laufen. Wenn sie mit mir Kontakt aufnehmen wollen, kommen sie zu mir und berühren mich oder sprechen mich an. In der Tanzgruppe gibt es lauter Naturtalente im Umgang mit Sehbehinderten.

Wie könnte man im Alltagsleben mehr Aufklärung leisten?

Fröhlich Ich glaube, an erster Stelle sind wir Menschen mit Behinderung in der Verantwortung uns selbstverständlich, offen und einladend zu verhalten. Es ist an uns, unserem Gegenüber zu sagen, was wir wollen und brauchen und auch was wir nicht wollen und nicht brauchen. Und dann glaube ich an das „Schneeball-System“. Ihr habt mich in die Line-Dance Gruppe aufgenommen. Die Gruppenmitglieder haben vielleicht zu Hause von mir erzählt, und dann trifft jemand aus der Familie beim nächsten Einkauf jemanden mit Langstock und weiß schon ein wenig mehr Bescheid über Sehbehinderung und den möglichen Umgang damit.