Nicht nur Verdi wirft der Stiftung Liebenau Tarifflucht vor. Der kirchliche Arbeitgeber hat für Tochterfirmen die Bindung an die Kirche gelöst, um Personalkosten zu sparen. Die Verantwortlichen wollten noch wesentlich weiter gehen.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

Weil im Schönbuch - Der Protest wird eine skurrile Symbolkraft haben: Aus ihrem Schloss heraus werden die Verantwortlichen der kirchlichen Stiftung Liebenau am 11. März sehen, wie sich draußen ihre Mitarbeiter versammeln, um sehr Weltliches fordern: gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Das Schloss Liebenau ist der Sitz der gleichnamigen Stiftung, die seit ihrer Gründung im Jahr 1866 christlichen Werten verhaftet ist.

 

Um den allgemein für kirchliche Arbeitgeber gültigen Tarif zu unterlaufen, hat sie für drei Tochtergesellschaften eigens die Bindung an die Kirche aus der Satzung streichen lassen, darunter die Liebenau Leben im Alter. Die Gesellschaft betreibt Altenheime, drei davon im Landkreis Böblingen. Seit der Satzungsänderung ist die Gewerkschaft Verdi zuständig für die knapp 800 Mitarbeiter und erlebte ungewohnten Zulauf. Die Zahl der Verdi-Mitglieder sprang von vier auf mehr als 200. Die Liebenau-Verantwortlichen „leugnen die Kirche, um billiger wegzukommen“, sagt der Verdi-Funktionär Marc Kappler, „aber das ist mit uns nicht zu machen“.

Die Liebenau hatte ein Prozent Lohnplus vorgeschlagen

Der erste, zarte Protest erwachte vor einem Monat im Haus Martinus in Weil im Schönbuch. Ein gutes Dutzend Mitarbeiter versammelte sich in einer Pause, um Plakate hochzuhalten: „Ihr Angebot ist eine Luftnummer.“ Die Liebenau hatte ein Prozent Lohnplus vorgeschlagen. Seither sei „das Angebot deutlich verbessert worden“, teilt die Stiftung mit. Weitere Auskünfte verweigert sie – selbst auf die Frage, wie jene Verbesserung zu beziffern sei. Eine rasche Einigung scheint nicht in Sicht. Auch die zweite Verhandlungsrunde über einen Haustarif blieb ohne Ergebnis. Zwei weitere Termine sind anberaumt. In früheren Pressemitteilungen hatte die Stiftung für sich reklamiert, dass ihre kleinen Häuser nach Tarif nicht finanzierbar wären.

Nach Verdi-Berechnungen spart die Liebenau im Vergleich zum Tarif jährlich rund eine Million Euro an Personalkosten. Das Gehaltsminus schwankt stark, je nach Status und Betriebszugehörigkeit. Die Gewerkschaft beziffert es zwischen mindestens 80 und bis zu höchstens 715 Euro monatlich. Auch andere kirchliche Arbeitgeber ärgert, dass ein derart prominentes Mitglied aus ihren Reihen ausschert. „Unser Verband setzt sich für Tariftreue ein.“ So formulierte es Eva-Maria Bolay, die Pressesprecherin der Caritas für das Gebiet der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Deutlicher werden die kirchlichen Arbeitnehmervertretungen, die Akmas und die DIAG MAV. „Stiftung Liebenau begeht Tarifflucht“, titelte erstere in einer Pressemitteilung und forderte den Bischof Gebhard Fürst zum Durchgreifen auf. Letztere sammelt unter dem Leitsatz „Diese Ungleichheit muss abgeschafft werden!“ Protestunterschriften.

Die Verantwortlichen wollten vor Gericht die kirchliche Bindung streichen lassen

Die Liebenau-Verantwortlichen wären gern wesentlich weiter gegangen. Sie wollte juristisch erzwingen, dass die gesamte Stiftung mit ihren gut 7100 Mitarbeitern ihre kirchliche Bindung streichen darf. Dieses Ansinnen scheiterte im Mai 2009 in zweiter Instanz vor dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg. Die Richter urteilten, das Ansinnen laufe dem erklärten Willen des Stiftungsgründers zuwider und ließen keine Revision zu.

Üblicherweise dringen Streitigkeiten zwischen kirchlichen Arbeitgebern und ihrer Belegschaft nicht an die Öffentlichkeit. Tariffragen sollen gütlich zwischen zwischen Vertretern beider Seiten geregelt werden – ohne Gewerkschaften. Diese Sonderregelung geht zurück auf das grundgesetzlich verankerte Selbstbestimmungsrecht der Kirchen. Protest regt sich deshalb selten. Streiks sind kirchlichen Arbeitnehmern fremd. Ungeachtet dessen regt sich bei den Mitarbeitern der Liebenau-Tochter wahrnehmbarer Widerstand. Mehr als die Hälfte von ihnen hat eine Protestnote an ihren Arbeitgeber unterschrieben. Die Gründe dafür hat Verdi in einer anonymen Umfrage gesammelt. Die kürzestmögliche Zusammenfassung liest sich so: mangelnde Wertschätzung, Demotivation, Ausbeutung, Personalmangel, Überstundenberge – bei schlechter Bezahlung.