Ein tödlicher Unfall ist der Ausgangspunkt für eine Geschichte rund um Wahrheit und Lüge, rund um mangelndes Selbstwertgefühl und Selbstsucht. Die Befindlichkeiten der Kommissare treten dabei angenehm in den Hintergrund. Was für eine Wohltat.

Digital Desk: Anja Treiber (atr)

Stuttgart - Ein weißer Kittel, die Haare praktisch in einen Dutt gewurstelt und bequemes Schuhwerk: Sabrina Dobisch (Lavinia Wilson) ist eine unscheinbare Altenpflegerin, die sich fürsorglich um ihre Patienten kümmert – aber selten echte Dankbarkeit erfährt. Bis dahin erzählt die Geschichte des Kieler Tatorts „Borowski und der Engel“ (Sonntag, 29. Dezember, 20.15 Uhr im Ersten und in der ARD-Mediathek) wenig Neues. Wer an dieser Stelle schon abschaltet, verpasst aber einen sehenswerten Krimi, bei dem die Befindlichkeiten der Ermittler Klaus Borowski (Axel Milberg) und Sarah Brandt (Sibel Kekilli) einmal angenehm in den Hintergrund treten.

 

Borowski und Brandt werden zu einem Verkehrsunfall gerufen, bei dem die Frage aufkommt, ob es tatsächlich einer gewesen ist. Der Konzert-Pianist und Sohn einer reichen Bankiersfamilie, Christian van Meeren, wird überfahren. Die Unfall-Zeugin und engagierte Ersthelferin Sabrina Dobisch – eben jene Altenpflegerin – gibt an, der Getötete habe ihr in seinen letzten Atemzügen anvertraut: „Sie will mich töten.“

Gemeint haben soll er die Fahrerin des Unfallwagens, Doris Ackermann (Leslie Malton). Die Immobilien-Expertin schuldet den Eltern des Opfers eine Menge Geld. Außerdem fährt sie mit einer geladenen Pistole im Handschuhfach spazieren. Warum? Borowski kann am Ende auch diesen kniffligen Fall lösen; allerdings nur mit Hilfe einer Lüge, die es in sich hat.

Zehn Jahre Borowski

„Borowski und der Engel“ ist kein klassischer Tatort, weil er die Geschichte nicht aus der Perspektive der Kommissare erzählt. Der Fokus liegt allein auf Frau Dobisch, der einsamen, kindlich verträumten aber durchtriebenen Frau Dobisch. Die Handlung hat der Drehbuch-Autor Sascha Arango um ihr verworrenes Psychogramm gewebt.

Und das ist umso beachtlicher als mit dieser Folge eigentlich ein Jubiläum ansteht: Zehn Jahre Borowski. Da hätte man den Kommissar doch so richtig schön brillieren lassen können. Aber Drehbuchautor Sascha Arango und Regisseur Andreas Kleinert machen es anders. Kein Klamauk (Tatort aus Münster), kein Gegockel (München), keine Krankengeschichten (Hessen), keine Sentimentalitäten (Leipzig): Dieser Film ist Balsam für die Seele von Tatort-Fans, die eine Pause brauchen von den möglichst absurd schrulligen Ermittler-Charakteren und ihrem albernem Team-Gekabbel.

Der Tatort aus Kiel im Kurzcheck

Schönste Krimifloskel: „Ich wollte das doch gar nicht, es ist einfach so passiert“, beteuert die Täterin und kullert mit den schönen Augen.

Heimliche Stilikone: Die Altenpflegerin Sabrina ist das Chamäleon dieses Tatorts. Nach einem Besuch beim Friseur ist sie in Highheels, fluffigem Blumenkleid und eleganter Sonnenbrille nicht mehr wieder zu erkennen.

Gefühlter Moment, in dem der Fall gelöst ist: Diese Frage stellt sich nicht. Der Zuschauer weiß, wie es zu dem Unfall mit Todesfolge gekommen ist, allein Borowski und seine Kollegin Brandt tappen einige Zeit im Dunkeln.