Ein Stück der Temperantia-Figur, die am Esslinger Alten Rathaus die Göttin der Mäßigung symbolisiert, ist abgebrochen. Ähnlich erging es vor einigen Jahren dem Adler.

Ein bisschen sieht es so aus, als wären Nachfahren von Verhüllungskünstler Christo am Werk gewesen. Die Temperantia-Figur am Alten Rathaus in Esslingen gibt sich dunkel bedeckt und an den Füßen gefesselt, nur noch der Kopf schaut oben heraus. Es sind Schutzmaßnahmen, keine Show. Denn vergangene Woche ist ein Teil der Temperantia-Figur abgestürzt, wie die Stadt am Mittwoch mitteilte. Nach Angaben eines Sprechers handelt es sich dabei wohl um ein Stück der Schale und einige Finger.

 

Der Bewegungsmechanismus aller Figuren wurde umgehend außer Betrieb genommen und die beschädigte Figur mit einem Netz gesichert, um das weitere Herabfallen von Teilen zu verhindern, heißt es in einer Pressemitteilung. Grund für den Teilabsturz sei vermutlich gewesen, dass eine Verankerung des angesetzten Unterarmes an der Buchenholzfigur schadhaft gewesen war. Laut Stadt werde „umgehend“damit begonnen, die historische Figur wieder instandzusetzen. Wie viel Zeit das in Anspruch nehmen könnte, war am Mittwoch noch unklar. Die Figur gehört zur astronomischen Uhr des Alten Rathauses in der Altstadt von Esslingen.

Temperantia, griechisch Sophrosyne, ist die römische Göttin der Mäßigung und symbolisiert eine der vier platonischen Kardinaltugenden. Am Alten Rathaus ist sie zu sehen, wie sie Wein und Wasser zu gleichen Teilen mischt.

Älteste Turmuhr, die funktioniert

Die Figur der Temperantia flankiert auf der Westseite, zusammen mit Justitia, der Göttin der Gerechtigkeit auf der Ostseite, die Wochentagsfiguren. Sie bewegen sich bei jedem Viertelstundenschlag, darüber schlägt zu jedem vollen Stundenschlag der Reichsadler mit den Flügeln. In der Mitte befindet sich die Erscheinungsöffnung für die Planetengötter, die jeweils für einen Wochentag stehen. Die 1589 vollendete astronomische Uhr des Alten Rathauses ist die älteste funktionierende schmiedeeiserne Turmuhr Deutschlands, betont die Stadt. Sie wurde zuletzt vor etwa 20 Jahren im Rahmen einer umfassenden Sanierung des Alten Rathauses restauriert.

Vor vier Jahren verlor bereits der Adler seine Flügel

Vor ziemlich genau vier Jahren ist dem Adler unter dem Glockentürmchen ein ähnliches Schicksal wie jetzt der Temperantia widerfahren. Die Flügel des Esslinger Wappentiers waren morsch und mussten abgenommen werden. Gut ein halbes Jahr thronte er wie ein gerupftes Huhn in rund 25 Metern Höhe, bis seine Schwingen denkmalgerecht saniert waren. Holzrestaurator Thorsten Weil aus Fellbach, der sich auch schon um den Boden in der Villa Merkel und die Holzvertäfelungen im Lempp-Zimmer des Alten Rathauses verdient gemacht hat, entwickelte damals ein Sanierungskonzept. Er hat nicht nur die Schäden im Holz ausgebessert, sondern auch den Goldüberzug ergänzt und eine Schutzschicht aufgebracht. Zudem wurden die Metallbeschläge repariert. Allein diese Arbeiten kosteten rund 3000 Euro.

Umbau durch Hofbaumeister Heinrich Schickhardt

Nach Ansicht der Deutschen Stiftung für Denkmalschutz zählt das Alte Rathaus zu den bemerkenswertesten Baudenkmälern und Sehenswürdigkeiten im historischen Stadtkern von Esslingen. Es wurde um 1422 als städtisches Kauf- und Steuerhaus in Fachwerkbauweise errichtet. Die charakteristische Konstruktion des „Schwäbischen Mannes“ ist noch an Süd-, Ost- und Westseite zu sehen. Die Nordteile zum heutigen Rathausplatz hin wurden zwischen 1586 und 1589 von dem württembergischen Hofbaumeister Heinrich Schickhardt umgebaut. Dabei wurde die Nordfassade überputzt und im Stil der Renaissance umgestaltet. Aus dieser Zeit stammt auch die astronomische Uhr des Tübinger Meisters Jacob Diem.