Wolfgang Seliger wurde 1977 bei einer Personenkontrolle von RAF-Terroristen schwer verletzt: Günter Sonnenberg feuerte sein gesamtes Pistolenmagazin auf den Polizisten. Es hätte nicht viel gefehlt und Seliger wäre das elfte Todesopfer der RAF geworden.

Reportage: Robin Szuttor (szu)
Singen – - Es hätte nicht viel gefehlt, und Wolfgang Seliger wäre 1977 das elfte Todesopfer des RAF-Terrors geworden. Im Verlauf einer Personenkontrolle in der Singener Innenstadt feuerte Günter Sonnenberg sein Pistolenmagazin auf den jungen Polizisten leer. Das Glück meinte es gut mit Seliger, er überlebte. Heute ist der 56-Jährige Hauptkommissar im Ermittlungsdienst und arbeitet immer noch in Singen.
Herr Seliger, erzählen Sie uns vom 3. 5. 1977?
Ich war damals seit etwa vier Monaten mit der Ausbildung fertig. An diesem Dienstag hatte ich Frühdienst. Gegen neun Uhr kam eine Zeugin auf das Revier, die glaubte, im Café Hanser ein Terroristenpärchen erkannt zu haben. Nun war das damals keine Seltenheit. Das Buback-Attentat lag nur einen Monat zurück. Knut Folkerts, der als Mittäter genannt wurde, hatte seine Kindheit in Singen verbracht, das war allgemein bekannt – und wohl auch der Grund, warum in der Stadt öfters vermeintliche Folkerts erkannt wurden. Ein älterer Kollege schickte mich dann zur Personenkontrolle rüber ins Café. Mein Kollege Uwe Jacobs, nur ein Jahr älter als ich, kam gerade zur Tür herein. Ihn nahm ich mit.
Standen Sie unter Anspannung?
Überhaupt nicht. Reine Routine. Das beschriebene Pärchen war so gut wie fertig mit dem Frühstück, las Zeitungen und machte keinen nervösen oder verdächtigen Eindruck. Sie sagten, sie kämen aus Stuttgart, die Ausweise hätten sie im Auto, das in der Nähe geparkt sei. Also entschlossen wir uns, sie dahin zu begleiten und uns die Ausweise zeigen zu lassen. Wir gingen eine Weile durch die Innenstadt, sie schienen den Parkplatz nicht mehr zu finden. Irgendwann fragte ich dann etwas ungehalten: „Wo ist denn die Kiste jetzt?“ Heute weiß ich: Die beiden wollten Zeit gewinnen. Auf dem Weg müssen sie sich durch Handzeichen oder kurze Codeworte irgendwie darüber verständigt haben, wie sie uns am besten ausschalten konnten.
Sie schöpften aber noch keinen Verdacht?
Wir ahnten beide nicht im Geringsten, dass wir da mit den Terroristen Günter Sonnenberg und Verena Becker durch die Stadt gingen. Sonnenberg wies schließlich in Richtung Höristraße. Da stehe der Wagen. Die beiden gingen vier, fünf Meter vor uns. Als Sonnenberg auf einen blauen VW Passat zeigte und ich das Kennzeichen sah, raste mir in Sekundenbruchteilen ein Adrenalinschub durch den Körper. Das Auto hatte eine Konstanzer, keine Stuttgarter Zulassung. Ich wusste sofort: Das ist eine Falle, jetzt stimmt gar nichts mehr. Ich wollte meine Waffe ziehen, bin aber nicht mehr dazu gekommen. Die beiden hatten sich schon umgedreht und, ohne zu zögern, das Feuer eröffnet. Günter Sonnenberg auf mich, Verena Becker auf Uwe. Der erste Schuss traf meine Hand – meine Pistole war nun weg und mein Finger auch. Der zweite Schuss traf in den Oberschenkel. Ich fiel zu Boden und versuchte, unter den Passat zu kriechen. Sonnenberg folgte mir, feuerte aus ungefähr zwei Metern das ganze Magazin auf mich leer. Ich sehe ihn noch vor mir, sein Gesicht, höre die ohrenbetäubend lauten Schüsse. Ein Projektil traf meinen Unterleib, zwei Kugeln schlugen in der Brust ein, eine Kugel bekam ich den Hals.
Wie fühlt sich so was an?
Man spürt eine Wucht wie bei einem Pferdetritt. Mich haute es nach hinten, und dann brannte alles vom Hals abwärts, als stünde mein Körper in Flammen. Da lag ich, der Schock überlagerte alle Gedanken.
Günter Sonnenberg, Jahrgang 1955, wächst in Karlsruhe als Sohn eines Bundesbahnoberrats auf. Auf dem Gymnasium ist er der Klassenbeste. Nach dem Abitur schreibt er sich an der Heidelberger Uni in Philosophie, Geschichte und Politologie ein. Zwei Jahre später, 1976, verabschiedet er sich von seinen Eltern, um – wie er sagt – eine Weltreise anzutreten. In Wirklichkeit taucht er in den Untergrund ab. Im gleichen Jahr erscheint sein Namen auf der Fahndungsliste des Bundeskriminalamts.
Was passierte mit Ihrem Kollegen?
Beckers Schüsse gingen an Uwes Kopf vorbei in den Teer, in die Jacke. Er erlitt nur einen Unterarmdurchschuss und stellte sich tot. Becker und Sonnenberg kaperten dann mit Waffengewalt einen Opel Ascona. Durch einen unglaublichen Zufall konnte die Polizei sie in dem Fahrzeug orten und die Verfolgung aufnehmen. Sie führte durch ein Wohngebiet auf einen Feldweg, wo die Terroristen zu Fuß weiter flüchteten und weiter schossen. Sonnenberg erlitt schließlich einen Kopf-, Becker einen Oberschenkeltreffer. Ein Kollege von mir hatte im Fluchtauto die abgesägte Schnellfeuerwaffe 5,6 mm von Heckler & Koch entdeckt, die beim Buback-Attentat verwendet wurde. Er hatte sie durchgeladen und die beiden quasi mit eigenen Waffen geschlagen. Ich war da schon mit Karacho ins Krankenhaus gebracht worden.
Das dann zur Hochsicherheitsklinik wurde.
Ja. Und binnen Stunden war sie von Reportern belagert. Ich lag mit Uwe in einem Zimmer. Davor saß immer ein Polizist, die Tür war abgeschlossen, und erst beim Kennwort „Schwester Bertha“ öffneten wir. Becker und Sonnenberg lagen im Zimmer nebenan. Die Boulevardpresse wandte alle Tricks an, um Fotos zu bekommen, postierte sich mit gigantischen Objektiven auf dem Hohentwiel. Versuchte, einen Kollegen von mir mit 10 000 Mark zu bestechen. Ein Reporter verkleidete sich als Coca-Cola-Techniker und schaffte es sogar bis auf die Wachstation. In meinem Heimatdorf versuchten Journalisten, alles Mögliche über mich in Erfahrung zu bringen. In welchem Verein ich bin, mit wem ich beim letzten Polterabend getanzt habe. Aber niemand hat mit ihnen gesprochen.