Lokstoff spielt in seiner neuen Produktion „Carta Canta“ in einem Foyer im Königsbau – wobei der öffentliche Raum dabei gar keine Rolle spielt.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Auf die Frage, wer er ist, könnte Aurelio allerhand antworten. Ein Italiener irgendwo in der Provinz. Ein Junggeselle in den besten Jahren. Ein Sonderling, der zahllose Briefe an eine Frau aus der Nachbarschaft schreibt, die aber nie antwortet. Ein Eigenbrötler, Kioskbesitzer, Schwätzer. Dann aber tätigt Aurelio eine Investition, die sein Leben verändert. Er lässt seinen Stammbaum erstellen. Als er von der Agentur einen dicken Packen mit Dokumenten über seine Ahnen und Ururahnen bekommt, ist nichts mehr wie es war. Denn Aurelio Brandi ist eigentlich kein Brandi, sondern ein Berandi. Mit "e". Und die Berandis waren, lang ist es her, ein Adelsgeschlecht. "Vorher warst du da und warst nicht da", sagt Aurelio, jetzt weiß er, was er immer schon gespürt hat: "Ich habe etwas Aristokratisches."

 

Im Königsbau, mitten in der Stuttgarter City, kann man diesen kleinen Italiener erleben, wie er sich in Begeisterung redet über seine nachträgliche Adelung und die Erkenntnis "Blut ist eben kein Wasser". Der Schauspieler Wilhelm Schneck ist in die Rolle des Aurelios geschlüpft und bestreitet allein die neue Produktion des Ensembles Lokstoff, einzig unterstützt von Rita Neziri und ihrer Ziehharmonika. Gespielt wird "Carta Canta" von Raffaello Baldini. Der italienische Mundartdichter hat auch einige Theaterstücke geschrieben, die freilich nicht allzu große Berühmtheit erlangten. So wird "Carta Canta" jetzt auch zum ersten Mal auf Deutsch aufgeführt - und zwar an einem ungewöhnlichen Ort: in einer Eingangshalle vor den Aufzügen zu den Büros im Königsbau.

Da steht er also, dieser Kauz in spießigem italienischem Schick. Kurzarmhemd, Hosenträger, Mandarinenbäumchen im Arm, Sporttasche und altem Kunststoffkoffer. Er redet viel. "Es ist wirklich schon schwer, zu sein, wer du bist", sagt Aurelio. Er erzählt von Beretti, dem Pfleger, der selbst zum Messer griff und Blinddärme entfernte, von seinem Schwager und dem Erbe - und kommt in seinem schier endlosen Erzählfluss doch immer wieder zur selben Frage: Was macht die eigene Identität aus? Wie verortet man das Selbst? Wie verändert sich das Ich, wenn man plötzlich in einen größeren Kontext eingebunden ist, in eine stolze Genealogie, die ganz neuen Halt und Verlässlichkeit verspricht?

Der Text ist dünn, die Figur belanglos

Doch Baldinis Text ist dünn, der Monolog verliert sich in endlosen Schleifen über die hoffnungsvolle These, dass Brandi jetzt jemand Bedeutendes wäre, weil er ein Nachfahre der Berandis ist. Die Figur ist nur sehr vage skizziert und kaum durchgearbeitet. Zu belanglos ist die Figur, als dass sie dem Thema kluge Einsichten abtrotzen könnte. Auch sprachlich ist "Carta Canta" nicht sehr überzeugend, immer wieder käut Aurelio dieselben Sätze und Gedanken durch: "Wo führt das hin?" und "Wir wissen nicht, wo das hinführt."

Wilhelm Schneck kopiert überzeugend die typisch italienischen Gesten. Er geht sicher mit der Fülle an Text um und schafft es, diese knapp eineinhalb Stunden kraftvoll durchzuhalten. Aber auch er kann die Längen des Textes nicht kaschieren. Er zieht die Brille so unendlich oft auf und ab und reaktiviert immer wieder von neuem einen unterschwellig aggressiven Ton. Viel mehr ist dem Regisseur Dieter Nelle nicht eingefallen, weil der Text einfach nicht mehr bietet.

In den gläsernen Aufzügen fahren mal ein Putzwagen hoch und ein Mitarbeiter runter. Der arme Kerl, der zum Feierabend einen Spießroutenlauf über die provisorische Bühne erdulden muss, macht deutlich, woran diese Lokstoff-Produktion krankt. Die Theaterformation hat es zum Konzept erklärt, im öffentlichen Raum zu spielen, in U-Bahn-Stationen und Stadtbahnen. "Carlo Canta" aber könnte ebenso gut auf einer Bühne stattfinden. Zumindest einmal gibt es einen Bezug zum Ambiente, als Wilhelm Schneck vor der verspiegelten Wand steht und den tiefschürfenden Satz sagt: "Du bist du."

Vorstellungen am 24., 25. Juni und am 15., 16., 22., 23. Juli, 9., 10., 16., 17., 23., 24.September