Hochkarätige Ensembles geben sich über Ostern die Klinke in die Hand bei den 34. Internationalen Theaterhaus Jazztagen. Fast alle Konzerte sind ausverkauft und viele Musiker treibt die aus den Fugen geratene Gegenwart um.

Angesichts einer Welt in Flammen sehnen sich viele danach, den Kopf freizubekommen, Emotionen zu kanalisieren. Viele Stuttgarter haben über Ostern dafür den Jazz gewählt, der vom friedlichen, demokratischen, kreativen Miteinander lebt.

 

Das größere Ganze

„Wenn wir eigenen inneren Frieden finden, dann wird äußerer Frieden möglich“, sagt am Samstag der badische Kontrabassist Dieter Ilg und verschmilzt mit dem Pianisten Rainer Böhm und dem Schlagzeuger Patrice Héral zum musikalischen Organismus. Kaum jemand entlockt dem Kontrabass einen derart ästhetisch intonierten Energiefluss wie Ilg, Böhms Finger fliegen so stromschnell über die Tasten, dass die Töne ihnen nachzujagen scheinen, und Héral lässt Trommeln und Becken in wechselnden Strudeln donnern, rascheln und zischen. Sie spielen Adaptionen aus der romantischen Klassik, darunter Märchen-Adaptionen Maurice Ravels. Der „Jardin féerique“ („Feengarten“) etwa erblüht zu einer fantasiegetränkten Pracht, wie man sie sich schöner kaum ausmalen kann. Da hören und spüren drei Musiker einander und das Wunder, dass individuelle Virtuosität gebündelt ein viel größeres Ganzes ergibt.

Eine Ode an Wolfgang Dauner

Kraftvoller Fusion-Sound funkelt, funkt und blitzt am Ostersonntag im Quartett des Schlagzeugers Wolfgang Haffner. Jede Note sitzt, kunstvoll inszenierte Details illuminieren die stimmig arrangierten Stücke. Aus dem Keyboarder Simon Oslender sprudeln griffige Motive nur so heraus, der Bassist Thomas Stieger pumpt unaufhörlich und der Trompeter Sebastian Studnitzky haucht hypnotische Sehnsuchtsmelodien. Sie interpretieren Chick Coreas „Spain“ und brillieren im Trio ohne „Stud“ beim explosiven Hochgeschwindigkeitsmonster „Tres Hermanos“. Haffner hat ein neues Stück namens „Eternity“ geschrieben, eine Ode an die verstorbene Stuttgarter Jazz-Piano-Ikone Wolfgang Dauner, von dem er einst gelernt hat: „Ohne ihn gäbe es mich nicht, musikalisch betrachtet.“

Wolfgang Haffner. /Bettina Meister

Auch am Sonntag beschwört der Stuttgarter Schlagzeuger und Multiinstrumentalist Daniel Kartmann die „Verbundenheit“, ehe sein Kartmann Kollektiv in eine einstündige Improvisation eintaucht. Miles Davis’ „Circle in the Round“ ist das Grundthema, das die Musiker umkreisen. Kartmann legt eine Basis an Trommeln oder Vibrafon, Musiker wie der Saxofonist Ekkehard Rössle formulieren spannungsreiche Interpretationen. Zentrale Momente steuern der Flötist Mohamad Fityan und die Sängerin Sandra Hartmann bei mit fein modellierten Tönen und einer strahlenden, lautmalenden Stimme. Mehr Miteinander geht kaum.

Das Kartmann Kollektiv. /Bettina Meister

Kulturkreise überwinden

Weniger kuschelig gibt sich am selben Abend der tunesische Wahl-Österreicher Dhafer Youssef. Mit seiner Virtuosität an der arabischen Laute und seiner mächtigen, zu Sirenentönen fähigen Singstimme demonstriert er eindrucksvoll, wie der Jazz spielend Kulturkreise überwinden kann; Youssef bereichert ihn mit einer arabischen Note.

Sobald er aber anfängt, seine Gedanken zu teilen, wird das Bild unscharf. Er sei stolz, Araber zu sein, sagt Youssef – und was in Deutschland passiere sei „echt traurig“. Er stellt das Bild von Hungrigen in den Raum, die man nicht abweisen dürfe, und reduziert die komplexe Gemengelage in Nahost auf den Satz: „Was in Gaza passiert, ist eine Unverschämtheit.“ Teile des Publikums pflichten spontan bei, andere hoffen, er möge sich nicht um Kopf und Kragen reden. Der Charmeur kriegt die Kurve: „Ich meine das nicht politisch, nur menschlich“, sagt er. Und widmet den Kindern in Gaza ein Lied, das er für seine sechsjährige Tochter geschrieben hat.

Dhafer Youssef. /

Musikalisch kommen keine Zweifel auf. Youssef gibt dirigiert eine wuchtige Fusion-Band aus Könnern der Extraklasse und setzt seine Musiker in Szene. Einer sticht besonders heraus: Glühend heiß die Klangkaskaden des Trompeters Mario Rom.

Die Schwermut vertreiben

Für gute Laune sorgt am Samstag der finnische Stride-Pianist Iiro Rantala. Er hat ein Herz für Pop und dramatische Effekte – er spielt wie ein Bar-Pianist, der auch aus den einsamsten Herzen alle Schwermut vertreiben möchte. Nach langer Solo-Phase hat er wieder ein Trio, und es passt perfekt: Der hyperaktive Schlagzeuger Anton Eger wirbelt, als gäbe es kein Morgen, und folgt dabei jeder Volte des Pianisten, während der Kontrabassist Conor Chaplin stoisch groovt und wie sein Bandleader für manch fröhliche Melodie gut ist. Was die drei auftischen, klingt durchweg frisch. „Für meine beiden Söhne habe ich schon lange Lieder geschrieben, aber nicht für meine Frau“, sagt Rantala. Kichern im ausverkauften Saal T2. „Sie hat nichts gesagt, aber diese Blicke...“ – Nun hat Lotta eine einfühlsame Ballade bekommen und dürfte damit mehr als zufrieden sein.

Grenzenlose Möglichkeiten

Am Karfreitag hat der Pianist Patrick Bebelaar gezeigt, wie Miteinander geht: Der aus Trier stammende Wahl-Stuttgarter lässt solo das musikalische Traumbild „The Truth and other Lies“ im Raum erstrahlen, dann mit dem Saxofonisten Frank Kroll den Standard „Round Midnight“. Dazu kommen Christoph Beck am Saxofon, Michel Godard an Tuba und Serpent sowie der quirlige Perkussionist Jarrod Cagwin. Alle sind sie große Geschichtenerzähler, die Noten intuitiv zu großen und kleinen Dramen aufreihen, erhabene Momente erschaffen, die Grenzenlosigkeit der musikalischen Möglichkeiten spürbar machen. In Bebelaars Großwerk „Pantheon“, 2005 für die Bachakademie komponiert, haben alle Weltreligionen und Kulturkreise ihren Platz. Auch Bachs h-Moll-Messe scheint durch, angereichert durch ein bisschen Blues. Die wohlbefeuerte Vielstimmigkeit bringt den ausverkauften Saal zum Kochen, wie an allen Abenden spendet das Publikum tosenden Applaus. Was von diesem Festival-Wochenende nachhallt, sind Funken der Hoffnung: Eine Welt, in der diese musikalische Freiheit möglich ist und in der ein großes Publikum sie leidenschaftlich feiert, kann nicht gänzlich verloren sein. Wenn das keine Osterbotschaft ist.

Weitere Termine

April
 4. 4.: A very special Evening with Rebekka Bakken & Friends: True North – Norwegian Tradition my Way. Halle T1, 20 Uhr, 5. April: Noir de Soul, Robohands. Halle T2, 20.30 Uhr, 6. April: Magnus Mehl Pocket Brass Band, Nils Kugelmann Trio. Halle T2, 20.30 Uhr.

Mai
 7. Mai: Joachim Kühn 80! feat. Michael Wollny, Eric Schaefer & Chris Jennings. Halle T1, 20 Uhr.