Theodor Eschenburg Ein Diener des Dritten Reichs

Exklusiv Der einstige Tübinger Politikprofessor Theodor Eschenburg leiht einem bedeutenden Preis seinen Namen. Neue Forschungserkenntnisse zeigen, dass er im Nazi-Regime mehr war als ein Mitläufer und darüber nicht immer die Wahrheit gesagt hat.
Stuttgart - Er wurde fast 95 Jahre alt. Manchen galt er als eine Art Institution. Kaum jemand außer Ralf Dahrendorf wies zu seinen Lebzeiten darauf hin, dass er nicht „der enthusiastischste Demokrat“ war: Theodor Eschenburg, Industrieverbandsfunktionär 1933–45, Hochschullehrer und ständiger „Zeit“-Kommentator seit den fünfziger Jahren. Buchtitel wie „Institutionelle Sorgen“, „Staat und Gesellschaft in Deutschland“, „Über Autorität“ spiegelten sein staatsbezogenes Denken. Für den Eschenburgpreis, den die Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) seit 2003 verleiht, fungiert er posthum als Namensgeber. Über diesen Preis wird gestritten, seit ich 2011 Eschenburgs Verstrickung in die rassistische Politik des NS-Regimes aufgedeckt habe.
Anlässlich des Eichmann-Prozesses notierte die politische Denkerin Hannah Arendt, den Nazis sei es bei der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden gelungen, große Teile des deutschen Volkes ebenso wie anderer Völker Europas moralisch zu korrumpieren. Das ganze Ausmaß dieser verstörenden moralischen Katastrophe ist nach wie vor nicht völlig erfasst. In dem Maße, in dem weitere Akten, Aufzeichnungen, Dokumente zum Vorschein kommen, wächst die Zahl derer, die infolge ihrer Mitwirkung am Wiederaufbau der Bundesrepublik jahrzehntelang unanfechtbar schienen.
Nun erweist sich, dass sie verwickelt waren in nationalsozialistische Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Drei Namen symbolisieren infolge jüngster Dokumentenfunde gegenwärtig diesen Vorgang: Franz Josef Schöningh (1902 bis 1960), der Mitbegründer der „Süddeutschen Zeitung“ im Jahr 1945; Hinrich Wilhelm Kopf (1893 bis 1961), sozialdemokratischer Ministerpräsident Niedersachsens ab 1946; und Theodor Eschenburg (1904 bis 1999), Professor für Politikwissenschaft an der Universität Tübingen seit 1952.
War nur die SS für den Terror zuständig?
Schöningh war Schriftleiter der katholischen Zeitschrift „Hochland“ bis zu deren Verbot 1941. Um der Einberufung zur Wehrmacht zu entgehen, ließ er sich bei der deutschen Zivilverwaltung im besetzten Polen anstellen. 1942–44 fungierte er als stellvertretender Kreishauptmann zunächst im galizischen Sambor, anschließend in Tarnopol. Zum Zeitpunkt des deutschen Einmarschs lebten in Sambor rund 8000, in Tarnopol etwa 18 000 Juden. In Sambor übernahm es Schöningh, die jüdische Bevölkerung „ohne Grausamkeit, wenn auch mit Härte“ in ein Ghetto zu sperren (so in einem Privatbrief; siehe Knud von Harbous Schöningh-Biografie „Wege und Abwege“).
Für Tarnopol war ein Ghetto bereits errichtet worden. Wie in ganz Galizien wurden Abertausende jüdischer Ghettoinsassen 1942/43 aus Sambor und Tarnopol in das Vernichtungslager Belzec deportiert. Bei dem Prozess „arbeitsteiligen“ Mordens wirkten Sicherheitspolizei und Zivilverwaltung zusammen. Nach dem Krieg behauptete Schöningh vor Gericht, „Terror“ habe allein die SS ausgeübt. Nicht zuletzt dank der Fürsprache Kardinal Faulhabers erhielt er eine US-Lizenz als einer der drei Gründer der „Süddeutschen Zeitung“.
Hinrich Wilhelm Kopf war 1928–1932 sozialdemokratischer Landrat in Niedersachsen. Anschließend gründete er in Berlin eine Maklerfirma, mit der er an dem Verkauf jüdischer Häuser verdiente. Nach dem deutschen Einmarsch in Polen war Kopf 1939–1942 für die sogenannte Haupttreuhandstelle Ost tätig. Ihre Aufgabe bestand in der Erfassung und „Verwertung“ – sprich: dem Raub – polnischen Vermögens mit dem Ziel wirtschaftlicher „Eindeutschung“ des besetzten Landes.
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