Thomas Hettches Roman „Pfaueninsel“ erzählt von der Vergänglichkeit glücksverheißender Gegenwelten. Er ist einer der Favoriten für den Deutschen Buchpreis.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Ein Kelch aus tiefdunklem rotem Glas schlägt Marie in seinen Bann. Es ist ein Überrest der Experimente, die ein Alchemist in früheren Tagen auf der Insel unternommen hat. Ein Feuer leuchtet darin. Immer wieder betrachtet sie dieses merkwürdige Material, etwas, das nicht vergeht und sich nicht verbinden will und dessen Vorkommen sich tellurischen Kräften verdankt, Vulkanen und den Feuerschmieden im Inneren der Welt. Wie sich Marie in dem seltsamen Objekt spiegelt, in das sie sich immer wieder sinnend versenkt, so wird für den Leser von Thomas Hettches rätselhaft-funkelndem neuen Roman ihr Leben zum Brennglas, in dem Geschichte, Kunst und Liebe auf eine Weise zusammenfinden, wie es nur Dinge tun, die sich auf natürliche Weise nicht miteinander verbinden. Und suchte man für die poetische Kraft und Eigenart dieses Romans eine Entsprechung, man fände sie nicht in der organischen Wachstums- und Entwicklungsidee, der Lebensgeschichten für gewöhnlich folgen, sondern in der gelehrten Praxis der Alchemisten, die aus der Kombination der Elemente, wenn nicht Gold, so doch jenes rote Glas erzeugen, das Marie so sehr fasziniert.

 

Nein, Thomas Hettches „Pfaueninsel“ ist kein Wachstumsroman, hier geht es um die Welt im Kleinen. Marie ist eine Zwergin. Als Kind kam sie zusammen mit ihrem ebenfalls kleinwüchsigen Bruder in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts auf jene Insel in der Havel, auf der ein preußischer König sich einst eines jener künstlichen Paradiese geschaffen hat, wie sie im verblichenen Rokoko Jahrzehnte zuvor beliebt waren: eine Spielzeugwelt voller Maskeraden, Kulissen, sentimentalen Exotismen. Als Teil dieses galanten Scheins gilt Marie als Schlossfräulein, als Teil der Wirklichkeit erfährt sie sich als Monster. In diesem Zwischenreich wächst sie heran, ohne doch größer zu werden. Marie ist eine Bewohnerin fremder Fantasien: Sie bleibt sich immer gleich, was sich ändert, sind die eskapistischen Träume glücksverheißender Gegenwelten, wie sie das dampfende und schnaubende Säkulum entwirft, das von außen hereinragt.

Zwischen Wirklichkeit und Einbildungskraft

Die Insel wandelt sich vom königlichen Fruchtbarkeitsidyll zur sterilen, von Sichtachsen zerteilten Schönheitsoase, bevölkert von exotischen Tieren und einer wachsenden Ausflüglerschar, die von der sich im Fortschrittsgedröhn immer weiter ausdehnenden Metropole Berlin andrängt. Der klassizistische Gartenkünstler Peter Joseph Lenné hat hier gewirkt, der Architekt Karl-Friedrich Schinkel und der Bildhauer Gottfried Schadow. Später weichen die Tiere den Pflanzen. Wurden jene skrupelloser Schaulust zum Fraß vorgeworfen, gedeihen die kostbaren Gewächse wiederum nur durch die Beheizung mittels der maschinellen Energien, die die kompensatorische Sehnsucht, unter Palmen zu wandeln, allererst befeuern.

Dies ist der Rahmen, den Hettche aus den historischen Quellen des Eilands getreu rekonstruiert. Auch das kleine Schlossfräulein Maria Dorothea Strakon hat wirklich gelebt und liegt vor der russischen Kirche Nikolskoe bei Potsdam begraben. Und doch ist ihre Geschichte angesiedelt in einem Bereich, wo sich die Wellen der Wirklichkeit an den Gestaden der Einbildungskraft brechen. „Als ob die Zeit selbst hier ihre Richtung verlöre, umstrudelt sie die Insel“, heißt es zu Beginn, „es vermischen Vergangenheit und Zukunft sich hier auf besondere Weise.“ Im Unterstrom treiben die Ereignisse vorbei, die die übrige Welt in Atem halten, die Napoleonischen Kriege, Hardenbergs Reformen, soziale Aufstände, die Eisenbahn und die beginnende Industrialisierung.

Ein Mensch ist keine Pflanze – oder doch?

Doch was auf der Pfaueninsel Gestalt gewinnt, fügt sich zu einer Geschichte des Imaginären. Sie erstreckt sich von den Spuren mesolithischer Jäger bis zum Standpunkt des heutigen Erzählers, zu ihr gehören Mythen und Märchen, Riesen und Zwerge, literarische Gestalten, die Entfesslung der Natur und ihre Bändigung, das Monströse und das Schöne, die Lust und der Tod.

Viel Stoff. Nur im Kleinen lässt er sich bewältigen, aus der Perspektive einer Zwergin. Maries Lieben und Leben ist die erzählerische Sichtachse dieses Romans, von der allerlei essayistische Nebenwege abzweigen. Wenn der Hofgärtner Fintelmann Marie betrachtet, ihre Stummelfinger, ihre krummen Arme, wünscht er sich, „ihr Riemen unter die Achseln zu schieben und sie wie Spalierobst aufzubinden, damit sie gerade wachse“. Aber Marie ist keine Pflanze. Sein Sohn Gustav, mit dem sie eine wahlverwandte Leidenschaft verbindet, erschrickt vor der körperlichen Vereinigung. „In der Liebe, dachte er, sind wir entweder Pflanze oder Tier. Es zeigt sich in ihr unsere eigentliche Gestalt, und es gibt kein Drittes, es sei denn, man wäre ein Ding.“ Doch genau als dieses Dritte fühlt sich Marie immer wieder, wenn sie mit dem auf der Insel weilenden König melancholische Nachmittagsstunden teilt. „Etwas jenseits von Tod oder Schönheit. Etwas, das dauerte. Etwas, das nicht fraß und sich nicht verschwendete. Das mineralische Reich. Sie war ein Ding.“ Zwischen den Sphären der Tiere, Pflanzen und der unbelebten Welt der Dinge schaukeln sich die Tragödien im Leben des kleinen Schlossfräuleins auf, die Vereinigungen wie die schmerzhaften Trennungen.

Ein Hybrid aus Reflexion und Erzählung

Beim Anblick der Pfauen, ihrer grotesken Schleppe, die es den Tieren erschwert, ihren Feinden zu entkommen, erschließt sich Marie das Wesen der Schönheit als ästhetischer Darwinismus: je größer und bunter die Federn des Pfauenhahns, umso größer die Chance, dass ein Weibchen ihn erwählt. Und auch wenn Darwin zu diesem Zeitpunkt noch ein kleiner Knabe war, spielt der zwischen den Zeiten vermittelnde Erzähler ihr schon einmal aus der Zukunft diese Erkenntnis zu: „Dass Schönheit der sichtbare Einspruch der Liebe gegen den Kampf ums Überleben ist, gegen die Sphäre des Todes.“ Wenn Schönheit aber nur eine Entscheidung dessen ist, auf den sie wirkt, dann kann auch das Groteske schön sein und eine Zwergin noch schöner als eine Königin.

Über die Schönheit aber regiert die Zeit. An ihr werden all die Machinationen zuschanden, die die Insel in ein künstliches Arkadien verwandelt haben. Es ist die verstreichende und nicht die bildende Zeit, die dieser abgründige Roman feiert, das Vergehen der Zukunft, den Sieg der Vergangenheit. Er ist selbst ein Hybrid aus intellektueller Reflexion und und romanhafter Erzählung. Seine Sprache leuchtet so klar und gleichzeitig dunkel wie jenes rätselhafte rote Glas, das seine Heldin durch ihr Leben trägt.