Die Tübinger Tierschützerin Agnes Graf bringt regelmäßig ihre Tiere ins Seniorenheim St. Martinshaus in Kirchentellinsfurt. Mit erstaunlich positiven Effekten für alle Beteiligten.

Kirchentellinsfurt - Der Esel fehlt, sonst wäre das Bild der Bremer Stadtmusikanten komplett. Dafür gibt es drei Katzenbabys, einen großen Kater, ein Huhn, eine Ente, einen Hasen und einen Hund – alle Tiere finden Platz im Kombi, wenn die Tierschützerin Agnes Graf ihre allwöchentliche Dienstfahrt antritt. Ihr Arbeitsplatz ist ein Seniorenheim in Kirchentellinsfurt im Landkreis Tübingen. Knapp 20 Bewohnerinnen des St. Martinshauses warten schon auf diese ziemlich einmalige Tierschau. „Wenn ich morgens sage, heute kommen die Tiere, dann strahlen unsere Bewohner“, sagt Karin Schäfer, die zum Team der Einrichtung gehört.

 

Längst haben sich die Damen im Stuhlkreis versammelt mit viel Platz in der Mitte für Decken und ein kleines Gehege für die Katzenkinder. Agnes Graf kennt alle Namen. Die ihrer Tiere sowieso, aber eben auch jene der Frauen. „Erst kommt das große Fressen, dann dürfen die Tiere auf den Schoß“, sagt sie nach der Begrüßung. Mit vollem Magen seien die Tiere ruhiger. Rosi, die Henne, Mogli, der Kater, Charlotte, der Hase – bald finden sie sich auf den Knien der Damen wieder. Ein gelbes Handtuch schützt sie vor eventuellem Ungemach.

Agnes Graf ist mit Tieren aufgewachsen

Liselotte, die große weiße Ente, mag nicht schmusen, gewissenhaft putzt sie sich, schlägt mitunter mit den Flügeln und wird sofort zum Blickfang. Speiky, der Hund, ist ein Jack Russell Terrier. Nicht gerade eine Rasse, die für enge Freundschaften mit anderen Tieren bekannt ist. Speiky hält sich nicht an dieses (Vor-)Urteil. Das wirft ein Licht auf die Begabung der Tübingerin im Umgang mit Tieren. „Bevor Speiky zu uns kam, war er schon bei vier Familien“, sagt Agnes Graf, „eine sechste wollen wir im nicht mehr zumuten“. Speiky bleibt somit bei den Grafs. Wie Willi, der Dachs, für den sich wohl kein neues Zuhause mehr finden lässt oder der Rehbock, für den Grafs Ehemann Rudolf derzeit ein neues Gehege errichtet. Agnes Graf kommt aus dem Bayerischen Wald, sie wuchs mit Tieren auf. 1973 folgte sie ihrem Mann, einem Chemiker, nach Tübingen. Ihn hat sie als 17-Jährige vor rund 45 Jahren kennengelernt. Jahrelang nahm sie das Notruftelefon des Tübinger Tierheims ab. „Wenn ein Tier zu uns kommt, wird es aufgenommen, oft aufgezogen und mitunter in gute Hände vermittelt“, sagt sie. So wie jetzt die drei sechs Wochen alten, munteren Katzenbabys.

Vor gut zehn Jahren galt ein mexikanischer Nackthund als schwieriger Fall. Agnes Graf fiel auf, wie sehr er direkten Körperkontakt mit Menschen schätzte. Mausi, so hieß der Rüde, gehörte zu den ersten Tieren, mit denen die Tierfreundin Altenheime besuchte. Oft begleitet von Frida, einer Henne. Dieses Engagement trug dazu bei, dass Agnes Graf 2009 den Landestierschutzpreis erhielt.

Die meisten Bewohnerinnen finden mehr Ruhe

„Schau, wie die Kätzchen miteinander raufen“, sagt eine der Frauen. Oder, ganz unvermittelt, mit Blick auf die Ente: „Liselotte, die Flotte“. Eine flüstert: „Nicht das Huhn, ich möchte den Hasen streicheln“. Henne Rosi bleibt bei einer Dame, die vor kurzem ihren 95. Geburtstag gefeiert hat. Karin Schäfer berichtet, dass die Bewohner des Heims während des Tierbesuchs mehr miteinander reden als sonst. Oft eher unruhige Menschen meiden alle lauten Worte, solange die tierischen Besucher um sie sind. „Oh da“, eine Frau weist aufmerksam in eine Richtung. Das Malheur auf dem Boden ist mit einem Tuch und etwas Desinfektionsmittel rasch beseitigt.

Viele der Seniorinnen in der Runde stammen aus Haushalten mit Tieren, vorwiegend Hunden, Hühnern oder Katzen. Sie finden schnell einen Bezug zu diesen Begleitern des Nachmittags, füttern gern mit allerlei Leckerli. Einige schauen nur interessiert zu. Bei einigen dauert es manchmal Wochen und Monate, bis sie sich einem Tier widmen wollen, sei es durch Streicheln oder Füttern.

Das Kuratorium Deutsche Altenhilfe setzt sich seit langem für Begegnungen zwischen Menschen und Tieren in der Altenhilfe ein. „Tiere bereiten Freude, bringen Abwechslung und fördern soziale Kontakte“, heißt es. Bei Demenzkranken sei dies besonders beeindruckend, von „Türöffnern auf vier Pfoten“ ist die Rede. Agnes Graf kennt eine Demenzgruppe, in der ihre Tiere manchen zum Reden brachte, der zuvor schon lange keine Worte mehr gefunden hatte. „Wir müssen Hundefutter kaufen“, lautete einer der unverhofften Sätze.

Am Ende ist die Stimmung entspannt und ausgeglichen

In Kirchentellinsfurt überträgt sich die Ruhe der längst gesättigten Tiere auf die Damenrunde. Die zunächst freudige Aufgeregtheit weicht einer verblüffend entspannten und ausgeglichenen Stimmung. Sogar die Ente gönnt sich ein Nickerchen.

Henne Rosi wird als Erste unruhig. „Das Huhn will heim, zur Nachtruhe auf die Stange“, sagt Agnes Graf lächelnd. Wie von ihr angekündigt, spaziert die Ente Liselotte ganz unaufgefordert in ihre Transportbox. Agnes Graf verabschiedet sich persönlich von jeder Frau und sagt zum Schluss: „Vielen Dank fürs Aufpassen.“