Es ist bereits das dritte Unfalltodesopfer auf der Daimler-Teststrecke in Papenburg. Die Staatsanwaltschaft ermittelt; der Testbetrieb auf der Strecke ruht.

Stuttgart - Der Parkplatz vor dem Prüfgelände im emsländischen Papenburg ist fast verwaist, auf dem zwölf Kilometer langen Ovalkurs dreht sich kein Rad. Nach einem Unfall, bei dem in der vergangenen Woche ein 48-jähriger Testfahrer in einem Mercedes tödlich verunglückte, ist der Betrieb vorübergehend komplett eingestellt worden. Noch am Netz ist die Internetseite der ATP Automotive Testing Papenburg GmbH. „Testen Sie uns“, heißt es dort. Das tun jetzt die Strafverfolger in Osnabrück, die umfassende Ermittlungen ankündigen, auch in den Fällen, deren Aktendeckel bereits geschlossen schienen. „Wir schauen uns doch noch einmal die ganze Geschichte an“, sagt Oberstaatsanwalt Alexander Retemeyer. Die ganze Geschichte, das sind mehrere tödliche Unfälle auf einer Hochgeschwindigkeitsstrecke, die Fragen an die Branche aufwerfen – und am Image des Konzerns mit dem Stern kratzen. Eine Verkettung unglücklicher Umstände? Zu laxer Umgang mit Sicherheitsstandards?

 

Nullbremsung: aus hohem Tempo zum Stillstand

Im September 2010 war ein 27-jähriger Ingenieur aus Pfullingen ums Leben gekommen, im vergangenen Oktober starb ein 49 Jahre alter Testfahrer an den Folgen eines Unfalls. Am vergangenen Donnerstag war es gegen 12 Uhr zum dritten tödlichen Unfall binnen zwei Jahren auf der Teststrecke gekommen. Dabei kam ein 48 Jahre alter Mann aus dem Emsland ums Leben. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft hatte der Testfahrer mit einem Mercedes eine sogenannte Nullbremsung gemacht. Der Wagen werde bei solchen Manövern von hoher Geschwindigkeit zum Stillstand gebracht. Danach stehe das Fahrzeug eine Minute auf der Strecke. In diesem Moment sei ein 31-jähriger Testfahrer, ebenfalls mit einem Mercedes unterwegs, auf den stehenden Wagen aufgefahren. „Der Sachverständige schätzte die Aufprallgeschwindigkeit auf 170 Stundenkilometer“, sagt Retemeyer. Der Unfallverursacher wurde schwer verletzt, für den Fahrer im vorderen Auto kam jede Hilfe zu spät. Sein Wagen ging in Flammen auf. Die Obduktion im Oldenburger Institut für Rechtsmedizin hat zwischenzeitlich ergeben, dass er bereits durch den ungeheuren Aufprall getötet wurde.

500 Kilometer entfernt im beschaulichen Pfullendorf hat die Nachricht von der neuerlichen Karambolage auf der Teststrecke Wunden aufgerissen, die ohnehin schwer heilen. „Das kommt mir leider alles so bekannt vor“, sagt Elisabeth Kemmler. Ihr Sohn Christof ist unter zumindest ähnlichen Umständen in Papenburg ums Leben gekommen. Auch damals gab es einen folgenschweren Auffahrunfall mit enormer Geschwindigkeit. Ein Gedenkstein für ihren Sohn steht heute auf dem Gelände.

Für den Studenten kam jede Hilfe zu spät

Im September 2010 war im Auftrag von Daimler ein fahrtechnisch unerfahrener Student auf dem Ovalrundkurs der 1998 in Betrieb genommenen Anlage unterwegs. Hochgeschwindigkeitsteststrecken kannte der Praktikant nur vom Fernsehen aus der Formel 1. Als der Tacho der M-Klasse 214 km/h zeigt, sah der Student plötzlich vor sich das Heck des SLS-Cabrios des Ingenieurs Christof Kemmler, der mit rund 65 Stundenkilometern auf dem Kurs unterwegs war und sich mit Geräuschmessungen beschäftigte. Es folgte ein gewaltiger Aufprall, bei dem die M-Klasse 26 Meter durch die Luft flog. Das SLS-Cabrio krachte in die Leitplanke. Der Student wurde verletzt, für Kemmler kam jede Hilfe zu spät. Der Praktikant, der bis heute seelisch unter dem Unfall leidet und sich bei der Familie des Opfers entschuldigt hat, wurde  später wegen fahrlässiger Tötung verurteilt.

In der Folge bemühten sich die Eltern von Christof Kemmler um eine umfassende juristische Aufarbeitung. In einem Brief an Daimler-Vorstandschef Dieter Zetsche äußerten sie den Verdacht, dass auch das Unternehmen eine Verantwortung für das Geschehene tragen könnte. „Strafrechtlich ist der M-Klasse-Fahrer schuldig. Liegen aber nicht auch Versäumnisse seitens der Daimler AG vor, die hierbei eine Rolle spielen?“

„Nach allen bisherigen Erkenntnissen war Unfallursache menschliches Versagen und keine sicherheitstechnischen Mängel an der Strecke oder mangelnde Schulung bei dem Unfallverursacher“, antwortete der Konzern. „Wir sind zu der Auffassung gekommen, dass auch die besten organisatorischen und sicherheitstechnischen Vorkehrungen tragische Unfälle wie diesen nicht völlig ausschließen können.“ Die Staatsanwaltschaft leitete dennoch im Sommer vergangenen Jahres ein Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Tötung gegen Zetsche ein, das nach wenigen Tagen wieder eingestellt wurde. Es seien keine Anhaltspunkte für eine Mitverantwortung erkennbar, hieß es.

Das Sicherheitskonzept wird noch einmal überprüft

Im Spiegel der aktuellen Ereignisse wollen die Ermittler in Osnabrück jetzt noch einmal genau hinsehen. „Die Häufigkeit der Unfälle spricht dafür, dass dort etwas im Argen liegt“, sagt Oberstaatsanwalt Retemeyer. An manchen Tagen seien 40 Autos gleichzeitig auf der Strecke. Das berge erhebliche Risiken. Der Daimler-Konzern, der über die Beteiligung an MB-Tech mit der Teststrecke in Beziehung steht, kündigte an, die Arbeit der Ermittler zu unterstützen. „Wir sind bestürzt und trauern mit den Angehörigen“, sagte ein Sprecher. Das vorhandene Sicherheitskonzept der 780 Hektar großen und 130 Millionen Euro teuren Anlage werde jetzt nochmals geprüft. Der Betreiber werde regelmäßig durch den Tüv geprüft; bisher habe es keine Beanstandungen gegeben. Aber Daimler sei in Papenburg letztlich Mieter. „Wir sind nur Nutzer des Geländes.“

Praktikanten setzt der Konzern nicht mehr als Fahrer ein

Auch die Betreibergesellschaft will die Aufklärung unterstützen. „Wir nehmen die aktuellen Vorkommnisse sehr ernst, sie haben bei uns allererste Priorität“, sagte eine Sprecherin. Bis auf Weiteres gebe es keine Tests auf dem Kurs. Nach dem Unfall mit dem Praktikanten, so bestätigt der Geschäftsführer, habe man das Sicherheitskonzept nochmals betrachtet und reagiert: „Praktikanten werden im regulären Test- und Erprobungsbetrieb nicht mehr als Fahrer eingesetzt.“ In Papenburg fahren bis zu 12 000 Autos pro Jahr, die mehr als zehn Millionen Testkilometer absolvieren.

Im schwäbischen Pfullingen sitzen derweil Elisabeth und Albrecht Kemmler und denken an die Angehörigen, denen es jetzt ergeht wie ihnen selbst vor zwei Jahren, als ihr Sohn starb. „Vielleicht wird jetzt der Druck größer“, sagen sie, „dass endlich gründlich nachgeschaut wird.“