Der Musikliebhaber Julian Alaphilippe ist der Liebling der französischen Fans, auch wenn der Führende in der Gesamtwertung die Frankreich-Rundfahrt nicht gewinnen kann. Noch nicht?

Nancy - Die Franzosen lieben die Tour de France, es ist ihr nationales Heiligtum. Und doch gibt es Tage, an denen die Begeisterung der Fans für die Grand Boucle noch größer ist als ohnehin schon – wenn einer der Ihren im Gelben Trikot fährt. Das kam in den vergangenen Jahren eher selten vor, zuletzt trug Tony Gallopin 2014 das Maillot Jaune für eine Etappe. Jetzt hat Julian Alaphilippe die lange Wartezeit beendet, mit einem furiosen Ritt, als er in Èpernay nach einer 16 Kilometer langen Soloflucht siegte, und er verteidigte das begehrteste Stück Stoff des Radsports am Dienstag auf dem Weg nach Nancy unter dem frenetischen Jubel seiner Landsleute. „Es ist“, schrieb das Tour-Organ „L’Equipe“, „wie ein permanenter Karneval.“ Dessen Ende trotzdem naht.

 

Alaphilippe (27) ist die Nummer eins der Weltrangliste und mit elf Siegen der erfolgreichste Profi dieser Saison, aber er ist kein Mann fürs Podium in Paris. Weil er zwar klettern und sprinten kann, die besten Rundfahrer in den ganz schweren Anstiegen aber einen längeren Atem haben. Schon am Donnerstag, bei der Bergankunft in La Planche des Belles Filles in den Vogesen, dürfte Alaphilippe die Führung in der Gesamtwertung wieder verlieren. Bis dahin, sagt er, werde er „jeden Kilometer im Gelben Trikot genießen“. Und sich danach anderen Zielen zuwenden.

Er mag die eher kurzen, dafür steilen Anstiege

Der Liebling der Franzosen hat bei der Tour 2018 als nimmermüder Angreifer das Bergtrikot gewonnen, das er auch diesmal gerne wieder tragen würde. Doch so lange er in Gelb fährt, ist es nicht möglich, sich in Ausreißergruppen zu tummeln. Insofern könnte seine Taktik sein, in den Vogesen nicht alles zu geben, um es wieder zu verlieren. Schließlich kommen danach genügend Etappen im Zentralmassiv, in den Pyrenäen und den Alpen, auf denen Alaphilippe (1,73 m/62 kg) im Kampf um das gepunktete Trikot seine Stärken ausspielen kann. Er mag die eher kurzen, dafür steilen Anstiege, seine Explosivität am Berg ist einzigartig im Peloton. Dazu kommt sein Naturell. „Abwarten liegt mir nicht“, sagt er, „Siege zu jagen, das ist das Beste, was ich auf dem Rad kann.“

In diesem Jahr landet er dabei Treffer auf Treffer. Unter anderem gewann Alaphilippe die Klassiker Mailand-Sanremo und Fleche Wallone. Bei seinem Tour-Etappensieg ließ er die Konkurrenz erneut staunend zurück. „Er ist extrem stark und bei diesen knackigen Anstiegen nicht zu schlagen“, sagt Maximilian Schachmann, dessen Bora-Teamkollege Peter Sagan meint: „Uns blieb nur noch der Sprint um den ersten Verlierplatz. Ich war überrascht, wie gut er das gemacht hat.“

Mit 16 brach er die Schule ab

Dabei sind sich Sagan und Alaphilippe durchaus ähnlich. Beide sind echte Typen, sie fahren unkonventionell, unberechenbar, unerschrocken. Und kommen nicht zuletzt deshalb bei den Fans so gut an. Allerdings ist der Slowake, der Weltmeister von 2015, 2016 und 2017, schon lange absolute Weltklasse, Alaphilippe erst seit kurzem. Und doch kam dessen Entwicklung für Experten nicht überraschend.

Der Franzose, der mit seinem Spitzbart aussieht wie eine abgespeckte Version von D’Artagnan, dem Weggefährten der drei Musketiere, musste erst lernen, wann es sinnvoll ist, zum entscheidenden Hieb auszuholen. Und so lange die Ruhe zu bewahren. Das war nicht leicht für Alaphilippe, den Freunde als „hyperaktiv“ bezeichnen und der als 16-Jähriger die Schule abbrach, weil er es nicht mehr schaffte, im Klassenzimmer ruhig zu sitzen. Seine überschüssige Energie? Steckte er in den Sport. In seinen Job als Fahrradmechaniker. Und in die Musik.

Alaphilippes Vater Jo ist Orchestermeister, sein Sohn begeisterter Schlagzeuger, der mit seinem Bruder Bryan, einem Keyboarder, auch schon mal spontan ein Konzert auf der Straße spielte. Wenn er heute im Bus seines Teams Deceunick-Quick Step den Ton angibt, dann läuft Rockmusik. Er sei froh, hat er einmal erzählt, dass Musik zu machen und Radrennen zu fahren, so viel gemeinsam habe. Egal ob im Sattel oder am Schlagzeug – es gehe stets um Tempo und Taktgefühl: „Man muss sich in einem bestimmten Rhythmus bewegen. Diesen Rhythmus hast du entweder in dir oder eben nicht.“

Für Alaphilippe gibt es vom Chef nur Lob

Alaphilippe hat ihn. Er ist der Hit, aber gerade weil er zu den Chartstürmern des Radsports gehört, wird er kritisch beäugt. Schließlich fährt er auch noch im erfolgreichsten Team des Pelotons, das von einem Mann der alten Schule geleitet wird: Etliche Profis, die Patrick Lefevere unter Vertag hatte, wurden positiv getestet oder gaben nach ihrer Karriere zu, gedopt zu haben. Der Belgier wies Vorwürfe, am Betrug beteiligt gewesen zu sein, stets zurück. Für Alaphilippe gibt es vom Boss nur Lob: „Er zieht sein Ding durch.“

Dazu gehört, den Druck der französischen Fans, die seit dem Triumph 1985 von Bernard Hinault auf einen Tour-Sieger warten, nicht an sich heranzulassen. Noch nicht? „Er will sich zunächst auf andere Ziele fokussieren, Weltmeister werden, Lombardei- und Flandern-Rundfahrt gewinnen“, sagt Lefevere, „erst danach wird er vielleicht über die Gesamtwertung der Tour nachdenken.“ Dann, so viel ist sicher, würde die Begeisterung der Franzosen vollends explodieren.

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