Glanz und Elend des Massentourismus nimmt der italienische Autor Marco d’Eramo unter die Lupe in seinem Buch „Die Welt im Selfie“. Sein Fazit: Die Reisenden suchen das Echte, finden an beliebten Zielen aber nur noch eine Art Disneyland.

Stuttgart - Endlich Ferien! Endlich raus aus dem Alltagstrott und hinaus ins Freie! Der Aufbruch in den Urlaub im Hochsommer war bis vor Kurzem ein kollektives Ereignis, bei dem sich die Industriestädte für einen Monat lang leerten, weil sich ein großer Teil ihrer Einwohner ins Auto oder Flugzeug setzte und für einige Wochen in den Bergen oder am Meer, in fremden Städten und Ländern wiederfand. Inzwischen freilich ist das ganze Jahr über Reisesaison, denn der Tourismus ist im 21. Jahrhundert selbst zu einer der wichtigsten Industrien geworden. Diese These vertritt der italienische Journalist Marco d’Eramo in seinem Buch „Die Welt im Selfie“, das den Versuch unternimmt, Glanz und Elend des touristischen Zeitalters genauer unter die Lupe zu nehmen.

 

Bis ins 18. Jahrhundert hinein war Reisen ein Privileg der Oberschicht. Seit der Renaissance brachen die Sprösslinge des Adels auf zur Grand Tour durch Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien, sie sollten Weltgewandtheit erwerben, Sprachen lernen und Kontakte knüpfen. Im 19. Jahrhundert wollte das Bürgertum es in ihnen gleichtun und erfand die Bildungsreise. Aber weil die Bürger im Gegensatz zur aristokratischen Oberschicht ihr Selbstverständnis nicht aus dem Müßiggang herleiteten, sondern aus der Arbeit, hatten sie für diese Reisen kein ganzes Jahr übrig, nur ein paar Wochen. So entstanden die Ferien.

Mark Twain beschrieb schon 1869 „Die Arglosen im Ausland“

Im 20. Jahrhundert gelangte dann auch die Arbeiterklasse schrittweise in den Genuss einiger Wochen Jahresurlaub. Seit den 1950er Jahren machten erst das Auto und dann die Billigflieger das Verreisen für immer mehr Menschen erschwinglich. Gab es 1950 weltweit 25 Millionen Reisende, so waren es 1970 schon 158 Millionen, im Jahr 2000 dann 753 Millionen und 2015 schließlich 1,186 Milliarden. Inzwischen erwirtschaftet die Tourismusindustrie weltweit 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und sorgt für 292 Millionen Arbeitsplätze.

Der englische Baptistenprediger Thomas Cook organisierte Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten Pauschalreisen, aus denen später das nach ihm benannte Reisebüro hervorging. Zur selben Zeit kamen die ersten Reiseführer auf den Markt, etwa der berühmte Baedeker. Und der Amerikaner Mark Twain beschrieb in seinem 1869 veröffentlichten Reisebestseller „The Innocents Abroad, or The New Pilgrims’ Progress“ (deutsch: Die Arglosen im Ausland) den Beginn des Kreuzfahrttourismus: eine Europareise mit einem Schiff, die ihn 1867 nach Marseille, Paris, Genua, Venedig, Athen, Konstantinopel, Palästina und Ägypten führte.

Einheimische leiden unter den Massen

Wenn freilich die unteren Klassen Gepflogenheiten der Oberschicht übernehmen, kommt ein Mechanismus ins Spiel, den der französische Soziologe Pierre Bourdieu (einer der Lehrer von Marco d’Eramo) in seinem Klassiker „Die feinen Unterschiede“ so beschrieben hat: Wenn alle Zugang zu Gütern haben, die früher das Privileg weniger waren, dann verlieren diese Güter an Wert. Wenn die Ferienreise nichts Besonderes mehr ist, suchen die Oberschichten nach anderen Wegen, sich von den unteren Klassen zu unterscheiden. Eine Möglichkeit besteht darin, sich ein Reiseziel zu wählen, das so exklusiv ist, dass es sich nur wenige leisten können; eine andere im kulturkritischen Klagen von Touristen über die viel zu vielen Touristen.

Schon 1817 beschwerte sich der französische Schriftsteller Stendhal, Florenz sei „verstopft von sechshundert Russen oder Engländern“. Inzwischen gibt es in Städten wie Florenz, Venedig, Dubrovnik oder Brügge mehr Touristen als Einwohner, und selbst Großstädte wie Lissabon oder Barcelona empfinden die Touristenmassen nicht mehr als Segen, sondern als Fluch, weil sie den Einheimischen Wohnraum wegnehmen und das Stadtbild verändern durch Billigrestaurants und Souvenirshops. „Als Ort zum Wohnen und Leben wird die Touristenstadt für den Einheimischen mit der Zeit unlebbar“, konstatiert d’Eramo, und er weiß, wovon er spricht als Römer, der ganz in der Nähe des Kolosseums wohnt.

Die Unesco ist mit verantwortlich

Der Tourismus, so d’Eramo, produziert Widersprüche, an denen er zugrunde gehen wird. Die Reisenden suchen den einsamen Strand, das abgelegene Gebirgstal oder das berühmte Bauwerk – und treffen dort auf andere Touristen, die genau dasselbe suchen: „Wenn alle ans Meer gehen wollen, gibt es das Meer nicht mehr; das sieht man sehr gut an der andalusischen Costa del Sol, die so sehr mit Beton zugepflastert ist, dass man in der Landschaft alles Mögliche erkennen kann, nur nicht die See.“ Und die Reisenden suchen das Echte, das fremde Land und seine authentische Kultur – und treffen stattdessen auf Städte und Menschen, die sich mit voller Absicht für die Touristen inszenieren und damit gerade nicht authentisch sind.

Berühmte Touristenziele wie Venedig oder Florenz, aber immer mehr auch Städte wie Paris oder Rom entwickeln sich zu einer Art Disneyland: „mit Museen und Sandwichbars, Ruinen und Luxusboutiquen, mit Licht- und Klangspektakeln zwischen Pizzabuden und Dreisternerestaurants, mit Fußgängerzonen und gepflegten Schlafquartieren für die Mittelschicht“. D’Eramo äußert sich auch kritisch gegenüber dem Welterbe-Programm der Unesco, der er vorwirft, die Städte in ein Museum zu verwandeln: „Wo immer sie ihr Etikett aufklebt, stirbt die Stadt und endet buchstäblich als Präparat.“

Auch die Ethnologie steckt im Zwiespalt

Also lieber zu Hause bleiben und den Rat des Philosophen Blaise Pascal beherzigen? Der konstatierte schon im 17. Jahrhundert: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“ Oder den Widerspruch aushalten, der demjenigen gleicht, den der Ethnologe Claude Lévi-Strauss in „Traurige Tropen“ für seine Disziplin beschrieben hat? Diese wolle die authentische fremde Kultur erforschen – und zerstöre gerade mit dieser Forschung das Objekt ihrer Sehnsucht.

Auch ich bin in Arkadien, möchte der Tourist von sich sagen. Aber er kann sich dieses Gefühls nur vergewissern, wenn er sich dieses Arkadien vor der Reise durch Reiseführer erklären lässt und es nach seiner Rückkehr durch mitgebrachte Fotos und Andenken beglaubigen kann. Arkadien gibt es nur auf den zweiten, den nachträglichen Blick. Deshalb ist das Glück der Reisenden immer von Trauer durchzogen.