Die Werkstatt Valentin Saile in Stuttgart ist die älteste Glasmalerei in Baden-Württemberg. Seit bald 150 Jahren stellt sie Kunstobjekte und Fenster für Kirchen und Profanbauten her.

Stuttgart - Urgroßvaters Glasgemälde hat schwer gelitten im Hagelsturm, der Ende Juli vergangenen Jahres im Raum Tübingen wütete. Valentin Saile, Glasmalermeister und Restaurateur, steht in seiner Werkstatt in der Stuttgarter Moserstraße und deutet mit dem Zeigefinger auf eine mit bis zu zehn Farbschichten bemalte Fensterscheibe. In ihrer Mitte klafft ein faustgroßes Loch. „Die war nur noch ein riesiger Scherbenhaufen“, sagt Saile über das fast 120 Jahre alte, schwer beschädigte Werk seines Uropas Valentin Saile Senior. Der Senior hatte das Fenster im Jahr 1897 im Auftrag der Tübinger Firma Metz mit einer Ansicht von Schloss Lichtenstein bemalt. Das helle Gebäude mit dem märchenhaften Rapunzelturm thront auf einem Felsen, umgeben von dichtem Wald. Unten im Tal fährt ein Dampfzug – ein Motiv wie geschaffen für eine Postkarte. Tatsächlich hat die Kunstverlagsanstalt Gebrüder Metz einst mit Ansichtskarten ein Vermögen verdient.

 

Als die heutigen Eigentümer der Villa Metz Valentin Saile nach dem verheerenden Unwetter zu Hilfe riefen, ist der 60-Jährige im Eiltempo nach Tübingen gedüst, hat die Fragmente der Fensterscheibe vom Boden gesammelt, teils aus den Ritzen des Parketts gepult und nach Stuttgart gebracht. In der Glasmalerwerkstatt liegt die schwer versehrte Patientin nun auf einem Leuchttisch, daneben blitzen ein Skalpell und eine Pinzette. Bei der schwierigen Operation legt Saile bisweilen sogar einen Mundschutz an – nämlich dann, wenn er eine der alten Bleifassungen auffräsen muss. Statt mit Nadel und Faden wird das zerstörte Glaskunstwerk mit Zwei-Komponenten-Kleber zusammengeflickt. Eine langwierige Geduldsarbeit. Was Valentin Saile Senior wohl dazu sagen würde, dass ausgerechnet sein Urenkel sein zerstörtes Werk wieder zusammenpuzzelt?

Münchner Maler als Zugpferde

146 Jahre ist es her, dass der Glasmaler Valentin Saile eine Werkstatt in der Augustenstraße im Stuttgarter Westen eröffnete. Anfangs habe der Urgroßvater ziemlich kämpfen müssen, sagt Valentin Saile. Die Münchener Glasmaler hätten damals als die Besten gegolten. Wer es sich leisten konnte, der ließ Veranda, Erker, Treppenhaus oder Türoberlichter mit Glaskunst aus dem Bayerischen verschönern, obwohl es auch in Stuttgart Anbieter gab. Valentin Saile engagierte daher für seinen Betrieb Glasmaler aus München und machte kräftig Werbung mit dem Experten-Import. Ein cleverer Schachzug, sagt der Urenkel im Rückblick: „Von da an ging es rapide aufwärts.“ Die Glasmalerei Saile zog in ein größeres Gebäude in der Nachbarschaft, dann siedelte die Firma in die Neckarstraße um – in ein Gründerzeithaus direkt neben der Staatsgalerie, und schließlich in die Moserstraße schräg hinter dem Kunsttempel.

Egal, an welchem Standort – in der Glasmalerwerkstatt Saile gingen und gehen die Künstler ein und aus. Früher Adolf Hölzel, Max Ackermann, Ida Kerkovius oder Hans-Gottfried von Stockhausen. Heute Jo Schöpfer oder Ada Isensee.

Adolfs dynamischer Strich

Die Glasmalerei war stets Familiensache bei den Sailes, und das ist bis heute so geblieben. Valentin Saile leitet in vierter Generation den Betrieb, mit Neffe Christoph sitzt die fünfte mit im Boot. Eine Glasmalerlehre ist für die Kinder der Familie quasi obligatorisch. Manche Saile-Sprösslinge haben im Anschluss daran ein Studium an der Kunstakademie absolviert. Zum Beispiel Valentin Sailes Vater Adolf, der nach dem Krieg ein viel beschäftigter Kirchenmaler war. „Er war bekannt für seinen dynamischen Strich“, erzählt Valentin Saile, der nach seiner Lehre im elterlichen Betrieb Kunstgeschichte und Restaurierung studiert hat und sich deshalb augenzwinkernd als „schwarzes Schaf“ der Familie bezeichnet. „Ich war mir lange nicht sicher, ob ich in den Betrieb einsteigen will. Es ist toll, eine Firma mit Tradition zu leiten, aber auch eine gewisse Bürde. Das waren schon sehr große Stiefel“, sagt Valentin Saile im Rückblick.

Letzten Endes aber ist er doch in sie hineingeschlüpft: Von 1977 an leitete er mit seiner älteren Schwester Anne-Dore Kunz die Werkstatt. Ein Geschwisterduo, das sich arbeitstechnisch gut ergänzte – hier der Restaurator, da die Malerin. Die ältere Schwester hat ganz in der Saileschen Tradition erst eine Glasmalerlehre, dann ein Kunststudium absolviert. „Sie ist mir künstlerisch überlegen“, sagt Valentin Saile über seine Schwester, die mittlerweile offiziell in Rente ist, aber trotzdem regelmäßig den Pinsel schwingt. „Ich kann mir ein Leben ohne nicht vorstellen“, sagt die 73-Jährige. „Ich habe mich schon als Kind in der Werkstatt herumgetrieben und wollte das partout lernen.“

Nun steht Anne-Dore Kunz, grüne Schürze um den Bauch und Brille auf der Nase, neben einem Leuchttisch und lässt einen gläsernen Läufer, der an den Stößel eines Mörsers erinnert, wieder und wieder über die Farbpigmente in Pulverform kreisen. Es riecht säuerlich, denn das Farbpulver wird unter Zugabe von Essig cremig gerührt: „Er macht die Farbe geschmeidiger“, erklärt Kunz. Dann beugt sie sich über den Leuchttisch und malt freihändig mit schwarzer Farbe die Umrisse eines Fischs auf ein Stück weißes Fensterglas. Das Tier ist Teil eines Familienwappens, das auf einem Glasfenster aus den 1920er-Jahren prangt, die auf dem Tisch liegt. „Die Familie hat eine zweite Scheibe in Auftrag gegeben, damit jedes Kind eine hat“, erklärt Anne-Dore Kunz. „Kopieren ist wie eine Unterschrift fälschen“, sagt ihr Bruder: „Man muss den Duktus üben, notfalls einen ganzen Tag lang, bis er stimmt.“

Hochzeit von Glas und Farbe bei 600 Grad Celsius

Geduld, Geschick und ein Gänsekiel

Geduld und Geschick sind unerlässlich in diesem Geschäft. Und was braucht ein Glasmaler noch? „Man sollte wenig zittern und keine Schweißfinger haben“, sagt Anne-Dore Kunz, legt den Pinsel beiseite und zückt einen Gänsekiel. Mit der Feder ritzt sie Muster in die blaue Farbschicht, die sie zuvor auf ein Stück Glas aufgebracht hat – verschlungene Ranken und Rauten. Später schiebt sie das bemalte Glasstück in den Brennofen, wo sich bei rund 600 Grad Celsius die Farbschicht mit dem an der Oberfläche erweichten Glas verbindet. Je dicker die Farbe aufgetragen worden ist, desto intensiver ist der Ton nach dem Brennen.

Ihre jahrelange Erfahrung kommt Valentin Saile und Anne-Dore Kunz zupass, wenn Künstler mit ihren Entwürfen in der Werkstatt vorstellig werden. Manche von ihnen kommen mit einer Skizze in der Tasche in die Moserstraße und fragen: „Wie lässt sich der Entwurf umsetzen?“ Andere haben konkrete Vorstellungen, brauchen aber die praktische Hilfe der Glasmaler. „Dann muss man in die Haut des Künstlers schlüpfen und sich verleugnen“, sagt Saile.

Andere Kunstschaffende legen selbst mit Hand an, malen, bearbeiten das bunte Glas an der Ätzanlage oder schneiden an einem der großen alten Holztische die Glasstücke in die gewünschte Form. Im Glaslager im Hinterhof – 80 Regalfächer dreistöckig übereinander getürmt – finden sie Scheiben in jeder nur denkbaren Farbe. Über viele Jahre hat Saile den Fundus an größtenteils mundgeblasenem Glas zusammengekauft. Viel Geld und Herzblut steckt unter dem Wellblechdach. „Betriebswirtschaftlich ist das ein Wahnsinn“, sagt Valentin Saile. Aus künstlerischer Sicht aber ist es ein Paradies der Farben.